19.08.2014 PDF

Die Nation: Ideologie als materielle Gewalt und permanente Mobilmachung

Wir veröffentlichen hier vier kürzere Texte rund um das Thema Nationalismus, die als Beitrag der Gruppen gegen Kapital und Nation in der Bündniszeitung gegen die Einheitsfeierlichkeiten zum 3.10.2014 erscheinen. Am 3.10.2014 fand in Hannover eine Demo gegen die öffentlichen Feierlichkeiten statt, am 4.10. gab es auf einem Workshop-Tag Gelegenheit, die Kritik an Nationalismus und einigem mehr mit uns zu diskutieren.

Der nationale Diskurs einer bürgerlichen Demokratie stellt sich als eine Aneinanderreihung von Kampagnen dar. Es wird gefahndet und gehetzt, mobilisiert und verfolgt. Es geht gegen faule Arbeitslose und gierige Bankster, gegen nicht integrierbare Migranten, spaltende Kommunisten verbrecherische Zigeuner, raffende Juden, korrupte Politiker und all die anderen Figuren1, die sich Nationalisten von ihrem Fahndungsstandpunkt nach Sündern am Allgemeinwohl aus erfinden.

Die Nation ist eine permanente Mobilmachung, weil sich die objektiven Zwänge von Staat und Kapital als gefestigter Sozialcharakter ins Bewusstsein der Einzelnen übersetzt haben. Somit ist der Nationalismus als Idee, die die Massen ergriffen hat, als Nation selbst eine materielle Gewalt.

Allgemeinwohl und Sozialpartnerschaft

Der deutsche Staat entscheidet, ob man deutsch ist oder nicht. Durch einen gesetzlichen Gewaltakt definiert er, wen er seinem Menschenmaterial zuordnet und wen nicht.

Dies taucht so allerdings nicht im Bewusstsein von Nationalisten auf. Sie denken sich die nationale Klassengesellschaft als organisches Zusammenwirken2 mit dem Zweck Allgemeinwohl, als sittliche Gemeinschaft. Das staatliche Zwangskollektiv bilde eine Ordnung von Rechten und Pflichten, in der jeder seinen Platz habe. Das Verhältnis von Rechten und Pflichten wird sich dabei so gedacht, dass man durch die eigene Pflichterfüllung quasi einen Rechtsanspruch auf einen gerechten Lohn (im übertragenen Sinne) erwerbe. So geraten die täglichen Opfer für Staat und Kapital zu etwas, das sich letztlich doch auszahlen soll. Durch allgemeine Pflichterfüllung soll die sittliche Gemeinschaft ein harmonisches Miteinander sein, in dem jeder zu seinem Recht komme. Dafür wird zumindest bei allen anderen auch darauf gepocht, dass sie die nötigen Opfer bringen. Denn zwar soll sich jedes Opfer lohnen, aber jeder Lohn soll auch verdient sein.

Noch grundsätzlicher als den lohnenden Verzicht klagen Nationalisten das Bestehen und Funktionieren dieser Ordnung ein. Insofern ist der Nationalismus ein Ruf nach guter Herrschaft.

Der Nationalismus stellt sich also dar als eine Ideologie über Staat, Kapital und Staatsvolk. Er ist moralisches Anspruchsdenken, gespeist aus lustfeindlicher Opferbereitschaft.

Schon auf dieser Ebene ist der Nationalismus rassistisch, indem er sich selbst als Wesen der Menschen essentialisiert. Nicht nur die Zugehörigkeit zu einem Staat als dessen Untertan wird mit dem Wesen des Volkes gerechtfertigt, sondern auch die Zustimmung zu diesem Herrschaftsverhältnis. Insofern ist dann staatliche Herrschaft nicht mehr der Grund für die Existenz eines Volkes, in dem Sinne, dass sie es mit seiner Gewalt stiftet und entscheidet, wer dazugehört und wer nicht. Stattdessen stellt sich für den Nationalisten der Staat als riesiges Selbstverwirklichungsprojekt des Volkes, das auch ohne den Staat zusammengehöre, dar. Dieser Gedanke steckt in allen Varianten nationaler Identität.

Der besondere Interessengegensatz von Bourgeoisie und Proletariat wird sich weniger als Klassenkampf denn als Sozialpartnerschaft gedacht. Das gegensätzliche Verhältnis der Klassen stellt sich für die Nationalisten als eine sinnreiche Ergänzung dar. Sie halten den Zustand, dass die einen den anderen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, weil sie den Lohn brauchen, um an ihre Lebensmittel zu kommen, und die anderen mit diesem Elend kalkulieren für ein organisches Zusammenwirken: “Die einen haben Arbeitsplätze, die anderen können arbeiten, das passt ja gut zusammen!“ Inwiefern das völlig an der Sache vorbeigeht, davon unten mehr.

Weil der Gedanke der Sozialpartnerschaft den Gegensatz von Kapital und Arbeit leugnet, ist es nur folgerichtig, dass deutsche Gewerkschaftsfunktionäre sich die Auswirkungen dieses Gegensatzes nur über moralische Verfehlungen ihrer Arbeitgeber erklären können. Die sollen angeblich dafür da sein, dass Lohnabhängige einen Lohn bekommen und davon leben können.

Durch diesen Inhalt rechtfertigt der Nationalismus die bürgerliche Gesellschaft. All die Gegensätze zwischen den Interessen, die Unterschiede im Einkommen, die Hierarchie der Berufe werden geadelt vom Standpunkt und im Namen des Gemeinwesens, das dies alles braucht. Die Sisyphosarbeit des kapitalistischen Konkurrenzsubjekts erfährt seine Anerkennung und Absegnung als ehrenwerten Beitrag zum großen Ganzen.

Nationalismus ist das notwendig falsche Bewusstsein der antagonistischen Arbeitsteilung und ihrer nationalen Rechtsordnung sowie dem staatlichen Gewaltapparat, der sie strukturiert. Der Fehler dieses Bewusstseins soll in den folgenden Ausführungen nachgewiesen werden.

Klassen- und Konkurrenzgesellschaft

Allerdings ist die Klassengesellschaft kein organisches Zusammenwirken. Zwar ist auch ein kapitalistischer Reproduktionszusammenhang eine Arbeitsteilung, aber keine, in der gemeinsam die Bedürfnisbefriedigung geplant wird, sondern in der die Einzelnen ihre Interessen gegeneinander verfolgen.

Die Einzelnen sind als Eigentümer gesetzt. Als solche verfügen sie ausschließlich über das Ihre. Insofern schließen sie alle anderen von ihrem Reichtum aus und sind selbst vom gesellschaftlichen Reichtum ausgeschlossen. Die gegenseitige Abhängigkeit versuchen sie jeweils für sich nutzbar zu machen, indem sie den Mangel des anderen als Hebel benutzen, etwas von ihm zu verlangen. Andersherum zählt das eigene Bedürfnis nur, wenn es jemandem als ein solcher Hebel dient. Dafür muss es zahlungsfähig sein. Denn in der Gesellschaft des Eigentums ist Geld die alleinige Zugriffsmacht auf den gesellschaftlichen Reichtum. Deswegen ist Geldverdienen der Zweck von allem. Von der Verfügung über Geld hängt der Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum und damit die eigene Bedürfnisbefriedigung ab. Deswegen stellt sich die ökonomische Interaktion zwischen Käufer und Verkäufer als Konflikt um den Preis dar. Denn der Käufer will möglichst wenig zahlen, und der Verkäufer will möglichst viel einnehmen. Somit finden beide ihren Vorteil im Schaden des Anderen.

Geld zu verdienen ist allgemeiner Zweck. Die Mittel dazu fallen wiederum recht unterschiedlich aus. Die einen haben genug Geld, um es zu seiner eigenen Vermehrung einzusetzen, die anderen nicht.

Diejenigen, die arbeiten müssen, um Geld zu verdienen, sind auf jemanden angewiesen, der sie bezahlen will. Sie selbst können mit ihrer Arbeitskraft gar nichts anfangen, denn ihnen fehlen die Produktionsmittel. Deswegen brauchen sie jemanden, der über genug Geld für Lohn und Produktionsmittel verfügt. Ob also aus ihrer Arbeitskraft auch eine erfolgreiche Einkommensquelle wird, hängt von der Kalkulation von Unternehmen ab. Nur wenn ein solches auf ihre Arbeitskraft als gute Investition spekuliert, also als Geldquelle für das Unternehmen, wird sie zur Geldquelle für den Lohnabhängigen.

Für den Zweck der Kapitalvermehrung wird versucht, aus den Lohnabhängigen möglichst viel Leistung pro gezahlter Stunde zu pressen. Die Differenz zwischen Vorschuss und Erlös soll möglichst groß sein, um einen maximalen Profit zu erzielen. Daraus folgen all die Härten des Arbeitsalltags, die man von Los Angeles bis Shanghai, von Reikjavik bis Kapstadt kennt.

Mit diesem Zweck steht ein Unternehmen nicht alleine da. Die verschiedenen Unternehmen stehen zueinander in Konkurrenz um Marktanteile. Ihr Zugriff auf die Konkurrenzmittel, wie zum Beispiel moderne Maschinenparks, wird durch die Menge an Geld bestimmt, über die sie verfügen. Deswegen ist die Größe des Kapitals das Konkurrenzmittel schlechthin. Folglich kann dieses nie groß genug sein, was entsprechend auch für den Profit gilt, der sein Wachstum besorgt.

Hiermit sollte aufgezeigt werden, dass die Schäden nicht von so vielen erlitten werden, weil sich einige am Allgemeinwohl versündigen, sondern weil es objektive Gegensätze gibt. Das Elend resultiert nicht aus Charakterfehlern Einzelner, sondern aus der objektiven Verfasstheit der kapitalistischen Gesellschaft.

Es stimmt zwar, dass die Lohnabhängigen für ihr Interesse nach Lohn das Kapital brauchen. Tatsächlich müssen sie ihre Ausbeutung wollen, um sich überhaupt ein Einkommen und somit den Zugriff auf den gesellschaftlichen Reichtum zu verschaffen. Ihr ökonomischer Erfolg besteht darin, sich einem feindlichen Interesse dienstbar zu machen. Deswegen schmieren in der Krise des Kapitals auch die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen ab. Denn die verschärfte Krisenkonkurrenz des Kapitals macht viel Lohnarbeit überflüssig und intensiviert die noch stattfindende Lohnarbeit.

Allerdings ist es ein Fehlschluss, sich deswegen der Standortlogik zu beugen. Denn der Erfolg des Standorts bedeutet die flächendeckende, effiziente Ausbeutung der nationalen Arbeiterklasse relativ zu anderen Standorten. So stellen sich Erfolg wie Misserfolg des Standorts als Schaden für die Lohnabhängigen dar. Somit ist das Allgemeinwohl das Interesse des Kapitals – und das funktioniert nur über die Ausbeutung der Lohnabhängigen.

Die Existenz als Konkurrenzsubjekt im Allgemeinen und als Lohnabhängiger im Besonderen ist ein permanenter Schaden.

Die Erfindung von Schuldigen

Die Vorstellung des Nationalisten vom organischen Zusammenwirken steht im Widerspruch zur Erfahrung des permanenten Schadens. Diesen kritisiert er als Vergehen gegen seinen moralischen Rechtsanspruch auf ein „anständiges Leben“. Seine Opferbereitschaft ist eine anspruchsvolle. Als solche fordert sie den Widerspruch, dass sich sein ständiger Verzicht auch lohnen soll.

An seiner Vorstellung vom organischen Zusammenwirken festhaltend, kann er sich die Erfahrung nur über die mangelnde Pflichterfüllung durch andere Gesellschaftsmitglieder erklären. Denn bei allgemeiner Pflichterfüllung hätte ja ein harmonisches Miteinander zustande kommen müssen. Von diesem nationalistischen Fahndungsstandpunkt nach Sündern am Allgemeinwohl her erfindet er die Schuldigen. Weil er sich um die wirklichen Gründe mangelnder Harmonie nicht schert, gerät sein moralisches Urteil zur Erklärung: Bei denen liegt eine üble Gesinnung vor, das sind halt selbstsüchtige Schurken. Die Figuren, die sich dabei ausgedacht werden, sind vielfältig. In den Jahren der Finanzkrise 2008 ff. war die Figur des „gierigen Banksters“ eines der favorisierten Hassobjekte.

Im Weltbild des Nationalisten hat sich auch ein Kapitalist als nützliches Glied der Nation zu bewähren. Seine Aufgabe ist es, Arbeitsplätze zu schaffen, nützliche Sachen herstellen zu lassen und nicht zuletzt, Geld zu vermehren (um den anderen Aufgaben gerecht werden zu können). Wenn sich der entsprechende Erfolg nicht einstellt, dann liegt das nicht etwa an der Konkurrenz des Kapitals, sondern am Wesendessen, der da untergeht.

Im Falle der „gierigen Bankster“ ist der anständige Nationalist grundsätzlich skeptisch, ob bei denen nicht ein sehr grundlegender Charakterfehler vorliegt. Immerhin vermehren die ja „nur Geld“. Diese Feststellung lebt von dem Fehlurteil, es ginge z.B. dem VW-Konzern oder dem Tischler von neben an tatsächlich um etwas anderes als „nur um Geld“. Nur Geld zu wollen, das wäre purer Eigennutz und von der nationalistischen Warte aus klar zu verurteilen. Doch – ein Glück für die Bänker – Volksmob und Blätterwald entdecken doch noch eine Funktion, die das Bankwesen für die Nation habe: Die „guten“ Kapitalisten – das sind die mit den Fabriken – mit Kredit zu versorgen.

Wenn sich nun aber Misserfolg beim Geldverdienen einstellt, wenn Banken pleite gehen, und folglich „ihrer Aufgabe“ der Kreditversorgung nicht mehr nachkommen, dann liegt eindeutig ein Charakterfehler vor. Die Behauptung lautet: Es wurde zu viel riskiert. So als ob man in einer Konkurrenz den eigenen Erfolg selbst in der Hand hätte, wird den Bänkern vorgeworfen, dass er sich nicht einstellt.3

Die Folgen daraus reichen vom Ruf nach dem Staat, der den Bankensektor gefälligst so regulieren soll, dass Misserfolg unmöglich wird, bis hin zu Pappschildern mit der Aufschrift „Bankers? Hang them!“.

Die Verfolgung der Fremden

Gehören die einheimischen Schuldigen noch irgendwie dazu, ist für die Fremden in der moralischen Ordnung des Nationalisten gar kein Platz. Bei den einen wird ein Mangel an ihrem Deutschsein festgestellt, die anderen sind nicht einmal deutsch. Weil die nationale Ordnung eine sei, in der jeder seinen Platz hätte, wäre eigentlich auch jeder Platz besetzt. Folglich könne ein Zugezogener nur stören, denn das Boot sei voll.

Dieser Gedanke ist in Deutschland vor allem bekannt im Diskurs über „den Türken“, der nicht nur kriminell sei, sondern „uns“ auch die Arbeitsplätze wegnehme und nicht zuletzt den Sozialkassen auf der Tasche liege. Linke machen sich gern über den Widerspruch der letzten beiden Gedanken lustig und verkennen dabei den Gehalt des Gedankens: Egal was der Fremde macht, er stört die Nationalisten.

Der Fremde störe, aber schlimmer noch: Er sei Bestandteil eines anderen Volkskörpers. Als solcher wäre er dessen nationalem Erfolg und Werten verpflichtet. Insofern sei er mindestens verdächtig, die fünfte Kolonne des Feindes im eigenen Land zu sein.

Das historische Beispiel, was diesen Bestandteil des Nationalismus besonders deutlich macht, ist die Internierung japanischstämmiger Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs. Gemeint ist die erzwungene Umsiedlung und Internierung von annähernd 120.000 Japanern und japanischstämmigen Amerikanern (62 Prozent waren Bürger der Vereinigten Staaten) aus der Westküste der USA im Zweiten Weltkrieg. Während etwa 10.000 in der Lage waren, in einen anderen Teil des Landes ihrer eigenen Wahl umzuziehen, wurde der Rest – schätzungsweise 110.000 Männer, Frauen und Kinder – in hastig aufgebaute Lager, genannt „War Relocation Center“, im Abseits der Innenbereiche des Landes verlagert.4

Das Ganze beruhte auf dem rassistischen Ressentiment, dass diese Leute enemy aliens wären, feindliche Fremde. Ihnen wurde ein japantreues Wesen unterstellt, dass sie nach Pearl Harbour zur Gefahr machte; zumindest im nationalistischen Wahn der amerikanischen Regierung.

Aktuell scheint dieser Gedanke vor allem gegenüber der Figur des Moslems auf. Dabei wird anhand überwiegend biologischer Kriterien den als Araber markierten Menschen zugeschrieben, Moslem und damit per se Islamist zu sein.

Die rassistische Paranoia gegenüber Muslimen findet ihren Höhepunkt in der Befürchtung, dass in allen Moscheen ein gemeinsamer Plan zur Islamisierung Europas samt Scharia und Terroranschlägen geschmiedet würde. Aber auch die milderen Varianten, die ohne den gemeinsamen Plan auskommen, unterstellen immer noch die Islamisierung, die dann eben Resultat massenhaften, individuellen Handelns sei. Dieser Gedanke unterstellt eine Volksnatur, für die das Individuum nur noch als Repräsentant steht. Der Einzelne mit seinem Willen, seinen Bedürfnissen und seinen Gedanken wird durchgestrichen und nur noch als Erscheinungsform der Volksnatur wahrgenommen.

Man könnte meinen, dass dem der Gedanke von Integration entgegensteht. Allerdings relativiert Integration den Rassismus und Nationalismus gar nicht, da sie eine Anpassung der Fremden an das Allgemeinwohl und nationale Werte bedeuten soll. Die eigene nationale Identität soll dabei höchstens multikulturell um nicht-störende Elemente bereichert werden.

Integration heißt nicht mehr als die Verpflichtung auf Leistungsbereitschaft und Unterordnung unter das Kollektiv. Diese Variante der permanenten Mobilmachung erweitert ihren Anspruch auf Leistung dahingehend, dass sie kein Menschenmaterial ungenutzt lassen will, sofern von diesem das Bekenntnis zur nationalen Rotte erbracht wird. Denn davon, dass Fremde stören und illoyal sind, wird prinzipiell ausgegangen; dass er es nicht ist, muss der Fremde beweisen. Insofern ist Integration die Flexibilisierung der nationalen Identität zu Gunsten der permanenten Mobilmachung für Staat und Kapital. Diese Flexibilisierung zeigt sich zum Beispiel in Äußerungen wie der des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff: “Der Islam gehört zu Deutschland!“

Der Umstand, dass sich jeder Nationalismus in dem Widerspruch bewegt, die Nation einerseits als Willensgemeinschaft und andererseits als Wesensgemeinschaft zu behaupten, um das gemeinsame Schicksal zu begründen, schlägt sich auch im Umgang mit den Fremden nieder.

Während Linksliberale die Willenskomponente mehr betonen, um vielleicht nicht in der ersten, aber doch in der zweiten oder dritten Generation eine Integration zu erlauben, pochen Rechte doch mehr auf die Wesenskomponente, die als Kraft nun mal in einem wirke und gegen die man auch nichts machen könne, weshalb statt Integration Abschiebung, Unterwerfung oder Vernichtung anstünden.

Fremdheit und Schuld

Die Naturalisierung der Nationalität schließt nicht nur ein, dass man einfach dazugehöre, sondern unterstellt auch immer die Parteilichkeit: Deutsch sein heiße, deutsch denken, fühlen, handeln.

Wenn nun einem Deutschen Schuld attestiert wird, wenn er als Sünder gebrandmarkt wird, dann lässt das immer auch Zweifel an seinem Deutsch-Sein aufkommen. Diese Zweifel können entweder im Vorwurf, Agent fremder Mächte zu sein, oder dem der Wurzellosigkeit münden.

Aktuell kann man dies zum Beispiel an der öffentlichen Besprechung der nationalistisch-antisemitischen Montagsdemos sehen. Die Demonstrierenden sollen entweder von raffinierter, russischer Propaganda verführt worden oder gleich russische Agenten sein. So wird ausgerechnet die nationalistisch-antisemitische Kritik der Friedensbewegung als un-national delegitimiert. Wer nicht einmal das Basiskriterium erfüllt, dazuzugehören, dem braucht man anscheinend auch nicht mehr zuzuhören.

Nicht zuletzt die Montagsdemos aber üben sich auch gern in diesem Argument. So ist für sie schon klar, dass im Bankenwesen nur Schurken agieren, weil sie das Finanzkapital wahlweise amerikanisch oder international, also entweder fremd oder wurzellos, letztlich aber jedenfalls feindlich einschätzen. Für sie als knallharte Nationalisten ist klar, dass solche von Scholle und Sippe entfernten Institutionen der Aufgabe der (deutschen) Nation einen Dienst zu leisten, nicht gerecht werden können. Insofern ist der gierige Bankster (jüdisch-)wurzellos, oder wenigstens ein Ami. Die eigenen Politiker werden sich dann als Knechte dieser fremden Macht gedacht.

So bedienen sich beide Parteien im aktuellen Zwei-Linien-Kampf des Deutschtums des Vorwurfs, die jeweils andere Seite sei der Knecht fremder Herren, bestünde also eigentlich aus Vaterlandsverrätern.

Der Antisemitismus ist der Kulminationspunkt der nationalistischen Hatz. Im wurzellosen, raffenden, raffinierten, arbeitsscheuen Juden verschmelzen alle Sünden am Allgemeinwohl in dem einen Übeltäter, der letztlich hinter allem stünde. Die Absurdität, dass der Jude für die Kapitalinteressen des Finanzkapitals sowie für die antinational-klassenkämpferischen Umtriebe der Kommunisten und allerlei anderes verantwortlich sein soll, macht im Weltbild eines Nationalisten Sinn. Denn all diese Dinge haben miteinander gemeinsam, dass sie dem nationalen Erfolg abträglich sind. So muss die nationalistische Denke zwar nicht zwangsläufig beim Antisemitismus landen, aber der Fortgang bis zur antisemitischen Weltverschwörung hat durchaus seine falsche Folgerichtigkeit, wenn man den Unfug vom organischen Zusammenwirken der Nation teilt. Und das tun sie von Linkspartei bis CDU.

Krisendynamik der nationalistischen Ideologie und permanente Mobilmachung

Als Idee, die die Massen ergriffen hat, ist der Nationalismus gesellschaftliche Praxis und dadurch selbst materielle Gewalt.

In jeder Kampagne, in jeder Hatz vergewissert sich die Nation ihrer selbst und macht mobil. In der Hetze gegen die Schuldigen und Fremden bekräftigt sich die eigene Sittlichkeit und Identität mindestens als Eigentlichkeit. In der Praxis der Verfolgung von Fremden und Schuldigen weiß sich der Volkskörper vereint als ein dem Ideal verpflichtetes Kollektiv, von dem die Sünder abweichen. Jeder Schlag gegen die Störenfriede ist in der gleichen Bewegung immer ein Schulterklopfen bei sich selbst. Wenn sie an Gierigen und Arbeitsscheuen, an Undemokratischen und Andersartigen ihr Strafbedürfnis befriedigen, ist das immer auch eine positive Generalprävention gegen den Zerfall der prekären Gemeinschaft der Konkurrenten.

Der ungeglaubte Glaube an den lohnenden Verzicht oder die panische Angst vor dem kollektiven Untergang werden fortwährend in Kampagnen der Elite losgetreten, mit denen einem jeden und einer jeden bedeutet wird, dass er oder sie sich aus eigener Verantwortung und auf eigenes Risiko als Mitglied der nationalen Rotte zu bewähren hat.

In der Krise verschärft sich der Widerspruch zwischen der Vorstellung des organischen Zusammenwirkens und dem permanenten Schaden, da dieser sich vermehrt.

In der zugespitzten Krisenkonkurrenz des Kapitals setzt sich ein neuer Stand der Produktivität durch. Der Einbruch der Absatzmärkte und die Zaghaftigkeit bei der Kreditvergabe verschärfen die Konkurrenz so sehr, dass das Kapital besondere Anstrengungen tätigt, die Ausbeutung zu intensivieren. Jedes einzelne Kapital versucht, möglichst nicht selbst Teil der massiven Entwertung zu sein, die mit der Krise einhergeht. Dennoch findet die Entwertung statt und somit schwinden die Möglichkeiten für die Lohnabhängigen, jemanden zu finden, der ihnen einen Lohn zahlt. Dienstbarkeit gegenüber dem feindlichen Interesse des Kapitals gerät zu einer derberen Härte, oder dieser ökonomische Erfolg bleibt gleich ganz aus.

Trotz aller Opferbereitschaft, die ein nationalistischer Proletarier so pflegt, wird es immer schwerer, sich die Illusion zu leisten, es ginge hier letztlich doch um ihnund wenn er dem Allgemeinwohl nur fleißig seinen Dienst erweise, würde auch etwas für ihn dabei herumkommen: denn es kommt nichts herum.

Dies führt grundsätzlich erst einmal zu nichts anderem als wie in den bisherigen Unterkapiteln geschildert. Auch aus der Krise folgt die Fahndung nach und die damit einhergehende Erfindung von Schuldigen. Auch aus der Krise folgt die Hatz auf Fremde. Doch in seiner aggressiven Panik entwickelt der Nationalist einen Tatendrang, in dem ihm das Gepöbel in der Mensa, das Kommentieren beim Spiegel oder das Wählen der SPD nicht mehr genug sein mag.

Hinzu tritt ein weit fundamentaleres Problem für den Nationalisten. Die sittliche Ordnung an sich, auf die er sich ein Recht zu haben denkt, gerät in Gefahr. Nicht nur seine gerechte Stellung in ihr, sondern ihre Existenz an sich sieht er bedroht.

Während in Zeiten florierender Kapitalakkumulation die Krisendiagnose von z.B. Nazis immer einigermaßen absurd wirkt und von anderen Nationalisten eher verspottet wird, wirkt es in Zeiten der Krise gar nicht mehr so verrückt. Zunehmende Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Zuspitzungen in der Staatenkonkurrenz, allesamt Mängel der nationalen Ordnung, lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Es braucht mehr Ordnungsmacht.

Je nachdem wie drastisch die Lage eingeschätzt wird, schreien Nationalisten vielleicht nur nach einem starken Staat, den in Deutschland zurzeit die meisten am ehesten durch die Stabilität versprechende Große Koalition verbürgt sehen, oder verlangen mehr bzw. zusätzlich nach einer völkischen Erweckungsbewegung wie in Griechenland.

Beides, der Ruf nach dem starken Staat und die völkische Erweckungsbewegung, sind die Radikalisierung der permanenten Mobilmachung der Nation.


1 In diesem Text wird sich in der Darstellung der Ideologie ihres Jargons bedient, um sie zu kritisieren.

2 Dies ist eine Metapher auf den Moralismus des Nationalismus im Allgemeinen. Es ist nicht nur die völkische Variante gemeint.

3 Die regressive Kapitalismuskritik im Zuge der Krise wird ausführlich im Text „Kritik der Profiteure statt Kapitalismuskritik – Empörte, Occupy, Banken in die Schranken“ kritisiert.

4 Siehe Wikipedia.