31.10.2000 PDF

Exkurs über Biologismus

Mit Biologismus wird hier salopp eine Theorie bezeichnet, die sich aus der Verknüpfung von Evolutionstheorie und Verhaltensforschung entwickelt hat. So wie sich das Skelett eines Menschen in die Skelette anderer Wirbeltiere übersetzen läßt, was je nach evolutionärer Verwandtschaft leichter (Gorilla) oder schwieriger (Blauwal) ist, so lasse sich analog auch menschliches Verhalten in das Verhalten von Tieren übersetzen, aus dem es hervorgegangen sei.

"Der entscheidende Unterschied zwischen Tier- und Menschengemeinschaften liegt in der von Menschengemeinschaften geschaffenen Kultur. Diese wurzelt in angeborenen Antrieben zur Selbsterhaltung, zur Erhaltung der Gruppe und damit der Art.
Mannesmut (Agressionsverhalten), Heimatliebe (Revierverhalten), Gattenliebe (Sexualverhalten), Elternliebe (Brutpflegeverhalten), Freundestreue (Gruppenverhalten) sind die edlen Grundmotive menschlichen Handelns, denen wir aus Neigung folgen. Kultur wurzelt außerdem in dem Erkenntnisdrang (Neugierverhalten), sowie in der hohen Leistungsfähigkeit der menschlichen Sinne, der Greifhand und des Großhirns, wodurch die Erforschung und Veränderung der Umwelt in Gang gesetzt wurde (Lernverhalten und einsichtiges Verhalten)."
(1)
Aus diesen "edlen Grundmotiven menschlichen Handelns" heraus lassen sich dann wahlweise auch alle anderen Phänomene der heutigen Gesellschaft erklären: Mord und Kriege (Agressionsverhalten), Nationalismus (Revierverhalten), Vergewaltigung (Sexualverhalten), Frauen an den Herd (Brutpflegeverhalten), Rassismus (Gruppenverhalten) - im Grunde folgt der Kapitalismus nur dem angeborenen Trieb zur Selbsterhaltung. In der einen oder anderen Variante (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) begegnet einem der Biologismus immer wieder. Was diese Auffassung von menschlichem Verhalten in der Konsequenz heißt, ist auch den Biologen nicht verborgen geblieben:
"Wenn es nämlich Verhaltensweisen gibt, die angeboren und dementsprechend in der Evolution entstanden sind, so bestehen nur geringe Chancen, sie tiefgreifend zu verändern." (2)

Angeborene Verhaltensweisen wollen die Biologen dadurch erkennen, daß sie analoge Verhaltensweisen im Tierreich finden. Und haben damit natürlich prompt Erfolg. So wie sie Schädel, Hände und Chromosomenstrukturen vergleichen, die oft auffällig übereinstimmen, so vergleichen sie menschliches und tierisches Sozialverhalten, mit demselben Ergebnis:
"Menschen bilden Kleingruppen, die den gemeinsam jagenden Horden der Wildtiere entsprechen. Die sich hier wie da einstellende Rangordnung wird nach den gleichen Ritualen gebildet. Das Imponierverhalten der Menschenaffen wirkt oft ausgesprochen "menschlich". Die Kommunikation innerhalb der Gruppe erfolgt durch Gesten, die uns vertraut sind. Handausstrecken bedeutet Kontaktaufnahme. Körperliche Berührungen deuten Sympathie an." (3)
Die Beweisführung ist lang und genau. Küssen ist z.B. ein Verhaltensbiologisches Relikt des Fütterungsverhaltens. Schimpansen füttern ihre Jungen - wie die Vögel - von Mund zu Mund und dasselbe Verhalten hat Eibl-Eibesfeld bei den Papuas ("Eingeborene" Neu-Guineas) beobachtet. Was unterscheidet den Menschen dann überhaupt noch vom Tier? Der eifrige Verhaltensforscher bleibt die Antwort in letzter Konsequenz schuldig:
"Als "menschlich" werden Abstraktionsfähigkeit und einsichtiges Denken angesehen. In gewisser Ausprägung finden wir das aber auch bei den Affen. Andere Säugetiere oder gar Vögel zeigen diese Eigenschaften wesentlich seltener."(4)
Der Mensch ist also doch ein in Rudeln lebender Allesfresser mit Daumenopposition und Paracetalon. Gesellschaftliche Veränderung kann es demnach nur evolutionär, nicht revolutionär geben.
Den Biologen unterläuft bei aller empirischer Genauigkeit ein grundlegender Fehler. Sie wollen etwas über Menschen herausfinden und schauen sich zu diesem Zweck das Tier an. Sie suchen nach Gemeinsamkeiten und es ist schon von Vornherein klar, daß sie welche finden werden. Menschen wie Tiere sind Sinnenwesen, die in einer bestimmten Naturgesetzen unterworfenen Welt leben. Das Repertoire, wie sich z.B. Nahrung beschaffen läßt, ist begrenzt. So wird sich für nahezu jede menschliche Verhaltensweise das entsprechende Pendant im Tierreich finden lassen - wenn man nur genug sucht.
Bei dieser Vorgehensweiser verschwinden die Unterschiede zwischen Mensch und Tier zusehends, sie werden Quantitativ - Daumenopposition oder nicht, daraus ergibt sich wirklich keine Qualitative, keine wesentliche Differenz zwischen Mensch und Tier. Das Großhirn wird zu einem reinen Werkzeug fürs Überleben, das in geringerem Maße auch einigen Tieren zur Verfügung steht.
Was bei dieser Vorgehensweise völlig ausgeblendet wird ist der freie Wille des Menschen - und das ist kein Zufall, denn hier hört die Parallelität zum Tierreich auf. Menschen mögen in Rudeln leben wie Wölfe, ihre Kinder von Mund zu Mund füttern wie Schimpansen oder singen wie Wale - aber sie müssen es nicht. Sie können genausogut ihre Kinder in großen Gruppen unter der Betreuung weniger Erwachsener aufziehen wie Strauße oder ihre Sozialkontakte auf die Paarungszeit beschränken wie Tiger. Diese Vielheit der Möglichkeiten widerlegt schon die Theorie eines angeborenen Verhaltens. Menschen können sich zu dem entscheiden, was sie tun und sie können sogar vernünftige Gründe für ihr Handeln haben. Jede biologische Determiniertheit hört da auf, wo über ein Verhalten nachgedacht, es reflektiert und geändert werden kann. Und wo diese Determiniertheit aufgehoben ist, beim Menschen als dem einzigen vernunftbegabten Sinnenwesen, da ist erst das Reich der Freiheit möglich. Denn wie die individuellen Verhaltensweisen dem Willen des Individuums unterliegen, so unterliegt die Gesellschaftsordnung ihrer Möglichkeit nach dem Willen der Menschheit, die sie hervorbringt. Und so ist der Mensch doch der Endpunkt der bloßen Evolution, da seine weitere Entwicklung (und die Entwicklung der Natur, da er nachhaltig in sie eingreift und auch dort Entwicklungen steuern kann)nicht mehr nur Sache der Natur, sondern seine eigene Aufgabe ist. Und die heißt Revolution.


1 Biologie für die Sekundarstufe II, Verhaltensbiologie, Dr. Karl Daumer, Bayerischer Schulbuch Verlag 1980
2 Materialien für den Sekundarbereich II Biologie, Evolution, Peter Hoff, Schroedel Schulbuchverlag GmbH, Hannover 1987
3 ebd.
4 ebd.

Dieser Text wurde Ende 2000 auf unserem Schulkritik-Seminar als Referat gehalten.