02.12.2022 PDF

Freiheit und Gleichheit in demokratischen Staaten

Demokratische Staaten gewähren ihren Untertanen Freiheit und Gleichheit.1In Verfassungen ist das meist direkt zu Beginn festgehalten, um die Bedeutung dieser Garantien zu unterstreichen. Im deutschen Grundgesetz liest sich das so: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ (Art. 2, Abs. 1). „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ (Art. 3, Abs. 1). Im Allgemeinen danken ihre Untertanen es den Staaten, in denen sie leben, indem sie diese Garantien ausgiebig nutzen, sich Ideale von ihnen bilden und die Welt um sie herum nach diesen Idealen beurteilen. Die meisten loben den Souverän der kapitalistischen Gesellschaft für seine Leistungen entsprechend dieser beiden Prinzipien, während einige allerdings auch einen Mangel an Freiheit und Gleichheit bei seiner Machtausübung feststellen.

Es ist schwer, eine politische Richtung zu finden, die weder Freiheit noch Gleichheit hoch hält. Die rechtsradikale British National Party nennt ihren Newsletter direkt „The Voice of Freedom“, Tories werfen Labour vor, soziale Gleichheit über wirtschaftliche Freiheit zu stellen, Liberaldemokraten tragen ihren positiven Bezug auf Freiheit im Namen, Labour stellt sich die heikle Aufgabe, Freiheit und Gleichheit in Einklang zu bringen, und es gibt eine trotzkistische Organisation, die sich für die Freiheit der Arbeiter*innen einsetzt – die Alliance for Workers Liberty. Antirassistische und feministische Aktivist*innen demonstrieren gegen (rassistische und sexistische) Ungleichheit und sogar die linkskommunistische Zeitschrift Sic, deren Macher*innen wahrlich keine Fans dieser Gesellschaft sind, behauptet, dass „Gleichheit nicht durch Verwendung von Mitteln entstehen kann, deren Existenz auf Ungleichheit beruht“.2

Es gibt also eine gewisse Dissonanz: Auf der einen Seite stehen politische Gruppierungen, die mit Freiheit und Gleichheit die existierende Gesellschaft im Prinzip befürworten, auf der anderen Seite stehen Gruppierungen, deren zentrale positive Bezugspunkte ebenfalls Freiheit und Gleichheit sind, die damit aber diese Gesellschaft loswerden wollen. Das hat seinen Grund in der kritischen Behauptung, dass Freiheit und Gleichheit in dieser Gesellschaft nicht vollständig verwirklicht sind bzw. es sich dabei um eine Täuschung handelt.

Das halten wir für einen Fehler. Unsere Begründung führen wir in zwei Teilen aus, einem zu Freiheit und einem zu Gleichheit. In beiden wird diskutiert, was es bedeutet, wenn Staaten ihren Untertanen Freiheit und Gleichheit garantieren. Unsere Behauptung lautet zusammengefasst, dass in dieser Gesellschaft durchaus bestimmte Formen von Freiheit und Gleichheit verwirklicht werden, was wesentlich für die Gesellschaft ist. Es sind die Formen, in denen (ökonomische) Ausbeutung und (politische) Herrschaft stattfinden. Die Kritik an Herrschaft und Ausbeutung muss sich daher Freiheit und Gleichheit annehmen.

Bevor es damit losgeht, ein paar kurze Hinweise, was die Umkehrung von Argumenten angeht. Darzustellen, wie gut die Garantie von Freiheit für Herrschaft funktioniert, bedeutet keine Parteinahme für Herrschaft. Wenn wir später kritisieren, dass Gleichheit eine Gleichgültigkeit gegenüber der Bedürfnisbefriedigung der Untertanen enthält, bedeutet das nicht, dass wir eine Unterordnung der Bedürfnisbefriedigung unter die Entscheidungen eines Zentralkomitees befürworten. Die Rechtfertigungen der bürgerlichen Demokraten für die Unterdrückung der Stalinisten und Faschisten zu kritisieren, bedeutet keine Parteinahme für diese. Und unsere Feindschaft gegenüber Stalinismus und Faschismus macht uns nicht zu Anhängern bürgerlich-demokratischer Regierungsmechanismen.

1 – Freiheit

Privateigentum: ein Reich der Freiheit

Das Privateigentum – eine rechtliche Grundvoraussetzung für die kapitalistische Produktionsweise – verwirklicht eine besondere Form von Freiheit im ökonomischen Bereich. Bürger*innen wird die Freiheit gegeben, über ihr jeweiliges Eigentum zu verfügen. Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse steht dazu nicht im Widerspruch, sondern gehört zu dieser Verwirklichung der Freiheit der Bürger*innen.

Der demokratische Staat räumt seinen Untertanen die Freiheit ein, jeden Zweck zu verfolgen, ganz wie es ihnen beliebt. Mit anderen Worten, der Staat schafft eine Sphäre der Freiheit, in der jede*r tun kann, was er*sie will. In bürgerlichen Gesellschaften ist jede*r Bürger*in frei, niemand ist Leibeigener oder Sklave, direkter Zwang darf nur vom Staat ausgeübt werden – und der Staat hat Prinzipien, die über den Launen seiner Agenten stehen: Rechtsstaatlichkeit. Zum Beispiel können sich die Leute für jede Stelle bewerben, die sie wollen; sie dürfen versuchen, in jede beliebige Stadt zu ziehen; sie können an jede Religion glauben, die sie mögen; und sie können Zeitschriften lesen, welche die bürgerliche Ordnung kritisieren.

Ein erster Springpunkt ist, dass diese Freiheit offenbar mit viel Gewalt garantiert werden muss. Das staatliche Gewaltmonopol garantiert die Freiheit seiner Bürger*innen. Das sollte Anlass geben, dieses Thema genauer zu betrachten.

Ein zentraler Freiheitsbereich existiert in einer Sphäre, in der Menschen notwendigerweise interagieren: der Wirtschaft. Sie können dort mit ihrem Privateigentum – dem, was sie besitzen – so umgehen, wie sie es für richtig halten. Tatsächlich bedeutet Privateigentum genau das: das ausschließliche Verfügungsrecht über Sachen. Es definiert einen Umkreis, in dem mein Interesse unangefochten gilt, ein Reich der Freiheit.3

Der kapitalistische Staat besteht zum Beispiel darauf, dass Alice ausschließlich über ihren Kramladen verfügen darf.4 Niemand sonst hat Einfluss darauf, was sie mit ihm und den Waren macht, weil es ihr Eigentum ist; ihr Wille gilt ausschließlich. Wenn andere die in ihrem Geschäft hergestellten Produkte brauchen, kann sie diese Bedürfnisse und Wünsche völlig ignorieren. Nur weil die ihren Kram brauchen, besteht für sie keine Notwendigkeit, ihnen den Kram zu geben – der Laden samt Inhalt gehört ihr und nicht ihnen. Diese Freiheit wird vom Staat garantiert.

Die Konfrontation mit dem ausschließlichen Verfügungsrecht anderer und der Gewährleistung des gleichen Rechts am eigenen Eigentum enthält eine implizite Aufforderung: Nutze deine Freiheit, um dir Zugang zu den Sachen im Bereich der Freiheit eine*r anderen zu verschaffen. Konfrontiert mit der Freiheit von Bob und aller anderen, Alice von ihrem jeweiligen Eigentum auszuschließen, ist Alice mit der staatlichen Garantie der freien Herrschaft über ihr Eigentum aufgefordert, diese „Gefälligkeit“ zu erwidern. Alice hat, was Bob braucht, Bob hat, was Alice braucht, also nutzen sie diese Abhängigkeiten, um an das Zeug hinter der gegenüberliegenden Freiheitsgrenze zu kommen. Sie tauschen ihr Eigentum aus.

Diese Ausübung der eigenen Freiheit, die Annahme des Angebots der Freiheitsgarantie des demokratischen Staates, schließt Interessenkollisionen ein. Wenn wir uns auf dem Markt gegenüberstehen, versuchen wir, die Abhängigkeit der anderen von unseren Sachen auszunutzen, um die Sachen zu bekommen, die wir brauchen. Alice und Bob kommen zwar zu einer Art Einigung – dem Vertrag –, aber das bedeutet nicht, dass sich die Positionen, von denen sie ausgegangen sind, auflösen: Sie nutzen immer noch die Abhängigkeit des anderen aus.5

Der Grund, warum die meisten Menschen in dieser Gesellschaft von den Mitteln zum Leben ausgeschlossen sind, liegt darin, dass diese Mittel im Reich der Freiheit von jeweils anderen liegen. Obwohl die Menschen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft aufeinander angewiesen sind, wird ihre Gleichgültigkeit demgegenüber staatlich garantiert. Das erklärt dann auch, warum staatliche Gewalt notwendig ist, um diese Freiheit zu erhalten.

Freiheit und die Mittel zur Verwirklichung

Die (vom Staat erteilte) Erlaubnis, meine eigenen Interessen zu verfolgen, enthält nichts anderes als diese Erlaubnis. Ohne die Mittel zur Verwirklichung eines Interesses bleibt die Erlaubnis, dieses zu verfolgen, abstrakt. Menschen werden nicht durch direkte Gewalt ausgebeutet, sondern durch den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse.

Privateigentum, d.h. die Freiheit, die das Recht auf Gleichgültigkeit gegenüber materiellen Abhängigkeiten garantiert, bringt eine andere Art von Abhängigkeit mit sich: die Abhängigkeit von Menschen in ihrer Rolle als Warenbesitzer. Wir beschränken uns hier auf einen bestimmten Aspekt dieser sozialen Beziehungen. Es gibt Menschen, die kaum oder kein Eigentum besitzen; sie haben nur Freiheit.6 Sie sind daher genötigt, sich mit denen zu verständigen, die nicht nur wie sie frei sind, sondern auch Eigentum besitzen. Erstens müssen sie Lebensmittel, Wohnungen, Unterhaltung usw. von denen kaufen, die sie verkaufen. Zweitens müssen sie Geld verdienen, um das zu kaufen, was sie brauchen. Dazu müssen sie etwas an Kapitalist*innen verkaufen, d.h. an diejenigen, die Eigentum in ausreichender Menge (und in der richtigen Form) besitzen. Was Menschen ohne Eigentum den Kapitalisten anbieten können ist ihre Dienstbarkeit, und so sind Millionen von Menschen Lohnarbeiter*innen und arbeiten für andere, solange das für letztere von Vorteil ist. Kapitalist*innen sind natürlich frei, diese Beziehung aufzulösen, wenn sie es für richtig halten. Auch Arbeitnehmer*innen haben das Recht, das Verhältnis aufzukündigen. Von Lohn zu Lohn zu leben bedeutet jedoch, dass dieses Recht nicht leichtfertig und entsprechend nicht häufig ausgeübt wird. Für die meisten Menschen bedeutet die Garantie ihrer persönlichen Freiheit also dauerhafte Abhängigkeit ihres Lebensunterhalts von der kapitalistischen Rentabibilität. Weit davon entfernt, „das zu tun, was ich will“, sind sie auf andere angewiesen. Das ist nicht nur eine gegenseitige Abhängigkeit, sondern eine, die der Ausbeutung zugrunde liegt und zugleich eine, die auf Ausbeutung beruht.

Allgemein nützt Freiheit, das zu tun, was ich will, ohne die Mittel, es tatsächlich zu tun, wenig. Als 1989 beispielsweise ostdeutsche Bürger*innen auf die Straße gingen, um unter anderem die Aufhebung der Reisebeschränkungen der DDR zu fordern, führte das schließlich zur Annexion Ostdeutschlands durch Westdeutschland. Infolgedessen gab es solche Reisebeschränkungen nicht mehr. Der damals beliebte Slogan „Visa-frei bis Shanghai!“ war realisiert, aber viele Menschen konnten sich Flüge nach Shanghai gar nicht leisten. Reisefreiheit beinhaltet nicht die Mittel zum Reisen. Wenn dir nur Freiheit gewährt wird, bekommst du auch nur Freiheit.

Es ist also ein Unterschied, ob ich mithilfe der bürgerlichen Freiheit machen darf, was ich will, oder umsetzen kann, was ich mir vorgenommen habe. Letzteres wird auch als Freiheit bezeichnet, nur muss man aufpassen, dass man dann auf einer anderen Ebene gelandet ist. In Diskussionen über die Freiheit werden diese Ebenen (ich darf machen, was ich will, versus ich kann machen, was ich mir vornehme) häufig vermischt. So haben Leute gegen die obigen Überlegungen folgenden Einwand eingebracht: „Man kann nie alles machen, weil der Mensch als Naturwesen an der Natur Schranken findet.“ Ohne weiteres stimmt dieses Urteil, aber warum soll das als Einwand gelten?

Dieser Text sagt, dass in in der Garantie der Freiheit durch den Staat die Limitierung der Bedürfnisbefriedigung enthalten ist. Nun soll der Hinweis, dass im Vergleich zu allen möglichen Zwecken, die man sich ausdenken kann, die Natur immer eine Realisierungsschranke darstellt, ein Einwand sein. Nach dem Motto: Man könne doch die bürgerliche Freiheit nicht derart kritisieren, dass man damit manches nicht umgesetzt bekommt, weil man generell nicht alles umsetzen könne. Daher bliebe die bürgerliche Freiheit die beste aller möglichen Welten.

Dazu: Menschen sind materielle Wesen in einer natürlichen Welt. Das heißt, wir müssen uns unabhängig von der Gesellschaftsform mit der Natur auseinandersetzen, um zu essen, ein Dach über dem Kopf zu haben oder Videospiele zu spielen. Durch das Studium und die Anwendung der Naturgesetze können wir die Natur jedoch nach unserem Willen gestalten. Dahingehend gibt es viel Wissen und Erfahrung – das Verständnis der Natur und die Anwendung ihrer Gesetze ist ziemlich entwickelt. Es ist zu einem Stadium fortgeschritten, dass wir zum Beispiel Videos von spektakulären Naturphänomenen in Sekundenschnelle weltweit teilen können.7

Es ist zwar wichtig zu betonen, dass wir nicht einfach alles machen können und bestimmte Sachen nur verwirklichen können, indem wir die Gesetzen der Natur kennen, beachten und benutzen. Aber Bedürfnisbefriedigung scheitert heutzutage nicht aufgrund mangelndem Verständnis von Natur oder ungenügender technischer Möglichkeiten, sondern durch die durch Staatsgewalten durchgesetzte Freiheit mit Privateigentum und der entsprechenden Ökonomie.

Für diese kann man in Bezug auf ökonomische Klassen und Möglichkeiten, Zwecke zu realisieren, differenzieren. Die Garantie, zu tun und zu lassen, was man will, gilt für alle Bürger*innen. Die Sicherheit, dass das, was man will, auch umgesetzt werden kann, ist sehr unterschiedlich: Dem Kapital stehen aufgrund der Kommandomacht in Form des Geldes sehr gute Bedingungen bereit, damit der Zweck, aus Geld mehr zu machen, aufgeht. Der Staat hat in einer erfolgreichen kapitalistischen Wirtschaft sehr gute Bedingungen, um seine Herrschaft durchzusetzen. Die lohnarbeitende Klasse muss dagegen erfahren, dass ihr Zweck „von der Arbeit Leben zu können“ partiell scheitert, auf jeden Fall sehr beschwerlich ist. Für diese Klasse ist der vom demokratischen Staat erlaubte und bei den Bürger*innen durchgesetzte Standpunkt „Ich tue, was ich will“ ein mieser Standard. Der angemessene Ansatz wäre im Gegenteil, die gegenseitige Abhängigkeit, die mit Arbeitsteilung einhergeht, zu reflektieren und bewusst zusammenzuarbeiten, damit man mit der Arbeit seine Bedürfnisbefriedigung sicherstellen, verbessern und zugleich die Freizeit entwickeln kann. 

Das Recht auf Freiheit

Recht ist nicht ohne Herrschaft zu haben. Das Recht auf einige Freiheiten wie Rede-, Meinungs-, Handels-, Bewegungsfreiheit usw. setzt Herrschaft und Unterwerfung voraus. Wer für ein Recht auf Freiheit streitet, plädiert (bewusst oder nicht) für die Unterwerfung unter den Staat.

Wenn jemand anderen ein Recht auf etwas einräumt, z.B. das Recht zu protestieren, beansprucht er als allererstes die Autorität, eine Erlaubnis erteilen zu können. Wer das Demonstrationsrecht gewährt, beansprucht damit die Hoheit über Aktionen und Reden auf einer Demo. Wenn wir – die Autor*innen dieses Artikels – unseren Leser*innen das Recht einräumen würden, sich eine eigene Meinung über unsere Argumente zu bilden, wäre das lächerlich. Wir sind offenbar nicht in der Lage, ein solches Recht zu gewähren oder zu verweigern. Unsere Leser*innen würden zu Recht einwenden, dass wir für diese Angelegenheit nicht zuständig sind. Dem Staat gelingt es dagegen, seine Zuständigkeit durchzusetzen; er gewährt das Recht auf etwas, das die Menschen ohnehin und ohne die Erlaubnis von irgendjemandem tun können. Das ist ein ziemlich radikaler Autoritätsanspruch. Ein Anspruch, der erfolgreich ist, weil der Staat über eine überlegene Gewalt und damit Macht verfügt, die von der überwiegenden Mehrheit seiner Bürger*innen akzeptiert wird.

Beherrschung ist bereits mit dem Gewähren eines solchen Rechts notwendig – nicht erst dann, wenn der Staat diese Rechte einschränkt, da Rechte ohne Herrschaft ohnehin nicht zu haben sind.8 Damit ist natürlich auch klargestellt, dass der Staat und niemand sonst entscheidet, was rechtlich getan oder gesagt werden darf und was nicht, also was der Umfang eines jeden Rechts ist. Die Erlaubnis zu erteilen schließt die Befugnis ein, sie zu verweigern.9 Hier soll jedoch herausgestellt werden, dass Herrschaft nicht mit der Einschränkung oder dem Entzug eines Rechts beginnt, sondern bereits bei der Einräumung von Rechten vorausgesetzt ist.

Vor diesem Hintergrund erscheint die generelle Erklärung des Staates „Du darfst deine Interessen verfolgen“ in einem anderen Licht: Jede Handlung seiner Untertanen verdankt sich der Gnade des Staates – so lautet der allumfassende Herrschafts-Anspruch, den der Staat bei der Gewährung von Freiheit geltend macht.

Meinungsfreiheit

Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft beschränkt sich natürlich nicht auf den exklusiven Zugang zu Dingen. Um ein Beispiel zu wählen, bei dem Freiheit nicht unmittelbar mit der Ökonomie zu tun hat, nehmen wir die auch in der Linken geschätzte Meinungsfreiheit. Sie gilt als eines der grundlegendsten demokratischen Rechte.

Eine Produktivkraft für demokratisches Regieren

Meinungsfreiheit ist ein Mittel der Herrschaft. Einerseits ist sie ein Mittel für die Regierung, eine Gesellschaft von Konkurrent*innen zu regieren. Andererseits zwingt der Staat durch Pluralismus seinen Untertanen Relativismus auf. Ihre Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen in der Freiheit anderer Bürger*innen, sie dürfen diese Freiheit und damit den Status quo nicht bestreiten.

Die bürgerliche Gesellschaft ist geprägt von einem bunten „Alle gegen alle“, einem Ensemble widerstreitender Interessen. Die Gewährleistung dieser Situation durch den Staat ist ein Hinweis darauf, dass er ein Interesse am Fortbestehen dieses Status quo hat. Der Staat garantiert diese Form der Gesellschaft und hat ein Interesse daran, sie aufrechtzuerhalten: Er will den wirtschaftlichen Erfolg, der durch die universelle Konkurrenz seiner Untertanen entsteht.

Die konkurrierenden Akteure konfrontieren den Staat mit ihren Forderungen nach den Bedingungen des Erfolgs – entweder für sich selbst oder für das, was sie für das Wirtschaftswachstum insgesamt für richtig halten. Manche wollen höhere, andere niedrigere Steuern, um den wirtschaftlichen Erfolg zu fördern; einige setzen sich für eine bessere Gesundheitsversorgung der Arbeitnehmer*innen ein, damit sie weniger Krankheitstage haben, andere lehnen dieses angebliche „Verwöhnen“ von Arbeitnehmer*innen ab; andere argumentieren, dass Umweltschutz kurzfristiges Wachstum übertrumpfen sollte usw. Bei all diesen Fragen haben Bürger*innen widersprüchliche Antworten. Die Freiheit, diese Antworten zu äußern und für sie zu argumentieren, wird von demokratischen Staaten als Bestandteil effektiver Regierungsführung in einer auf Wettbewerb basierenden Gesellschaft anerkannt.10

Anders ausgedrückt: Der demokratische Staat setzt auf die Initiative seiner Bürger*innen und ermutigt sie, Vorschläge zum Funktionieren seiner Gesellschaft abzugeben. Solange sie akzeptieren, dass alle gesellschaftlichen Veränderungen über die eingerichteten politischen Institutionen realisiert werden müssen, sind alle Bürger*innen willkommen, ihre Vorschläge einzubringen. Auch Protest wird ermutigt, sich in konstruktive Vorschläge zu verwandeln.

Die Verteidigung der Rede gegen ihre Folgen

Die Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen wie jede andere staatlich garantierte Freiheit. Kein demokratischer Staat der Welt gewährt Meinungsfreiheit uneingeschränkt. Erstens räumt kein Staat seinen Bürger*innen das Recht ein, alles zu sagen, was sie wollen.11 Zweitens fordern demokratische Staaten ihre Untertanen auf, sich auf Meinungsfreiheit einzuschränken, d.h. darauf zu verzichten, Worten einfach Taten folgen zu lassen. Drittens achten sie besonders auf diese Einschränkung, wenn es um das politische System selbst geht. Zum Beispiel behauptet der britische Staat seine Existenz für alle Ewigkeit und begründet das mit der Ansicht, das Parlament sei souverän und „kein Parlament kann Gesetze verabschieden, die künftige Parlamente nicht ändern können“. Die parlamentarische Demokratie besteht für immer und ewig und daran kann auch das Parlament nichts ändern. Das politische System selbst ist die Sache, über die man zwar eine schlechte Meinung haben darf, die aber einem auf verändernde Praxis abzielenden, freien Ideenwettbewerb nicht unterworfen ist.

Fallstudie A: Die Sorgen der britischen Konstitutionalisten

Tatsächlich gibt es in der britischen Rechtsliteratur einige Debatten über das fiktive Szenario, dass eine „extremistische“ Partei das Parlament übernimmt, d.h. eine Partei, die die Souveränität des Parlaments und die parlamentarische Demokratie nicht akzeptiert. Kein*e ernstzunehmende*r Teilnehmer*in an dieser Debatte unterstützt in einem solchen Fall die Vormachtstellung des Parlaments.

Albert Venn Dicey, ein renommierter Autor über die britische Verfassung, glaubte beispielsweise, dass der Monarch unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen das Parlament im Alleingang auflösen könnte, unter der Bedingung, dass „eine Situation eingetreten ist, bei dem es begründeten Anlass zu der Annahme gibt, dass die Vorstellung des Parlaments nicht die Vorstellung der Wähler darstellt … Eine Auflösung ist zulässig oder erforderlich, wenn der Wille des Gesetzgebers vom Willen der Nation abweicht, bzw. wenn davon ausgegangen werden kann“.12 D.h. dass die Auflösung des Parlaments in Extremsituationen zum königlichen Vorrecht gehört, um damit die „Meinung der Wähler“ gegen tatsächliche Wahlergebnisse geltend zu machen.

In ähnlicher Weise schreibt Trevor Allan, ein auf das Verhältnis von Gerichten und Parlament spezialisierter Jurist: „Die Praxis des richterlichen Gehorsams gegenüber dem Gesetz kann sich selbst nicht auf die Autorität des Gesetzes stützen: sie kann nur eine richterliche Entscheidung widerspiegeln, die auf einem Verständnis dessen beruht, was (unter den gegenwärtigen Bedingungen) die politische Moral verlangt. Die Grenzen dieser Praxis des Gehorsams müssen daher durch die Grenzen dieser politischen Moral gebildet werden. EineVerordnung, welchedie wesentlichen Elemente jeglichernachvollziehbarenAuffassung von einer demokratischen Regierung bedroht, würde jenseits dieser Grenzen liegen. Demzufolge verwirkt sie jeglichen Anspruch auf Anerkennung als Gesetz.“13

Diesen Gelehrten ist klar, dass jeder Schritt zur Abschaffung der parlamentarischen Demokratie durch die Unterdrückung des Parlaments unterdrückt werden muss. Das steht nicht zur Debatte. Die Gewährung von Meinungsfreiheit einerseits und die Einschränkung, dass bestimmte politische Überzeugungen, wie die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie, nicht umsetzbar sein können, zwingt zum Relativismus: Gleichgültig, was die Evidenz für eine bestimmte politische Theorie ist, sie darf nicht umgesetzt werden, wenn dadurch die Freiheit anderer verletzt wird, beispielsweise derjenigen, die sich weigern, diese Evidenz anzuerkennen.

Fallstudie B: Das Verbot der KP in Westdeutschland

Als das Bundesverfassungsgericht 1956 die stalinistische Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) verbot, drückte es sehr schön diese Logik der staatlich gewährten Meinungsfreiheit aus: „Dieses [Mehrparteien-]Prinzip will das Bestehen mehrerer Parteien gewährleisten, jedenfalls aber die Möglichkeit, daß sich jederzeit neue Parteien frei bilden dürfen. Dadurch wird nicht nur jeder unmittelbare Anspruch einer Partei auf die Stellung als ,Einheitsparteiʼ verfassungsrechtlich ausgeschlossen, sondern es wird darüber hinaus der für eine freiheitliche Demokratie unabdingbare Grundsatz aufgestellt, daß keine politische Partei den Anspruch auf ein Monopol richtiger politischer Erkenntnis und Zielsetzung und richtigen politischen Verhaltens erheben darf; denn eine solche Monopolpartei ist ihrem Wesen nach nicht mehr auf Teilhabe am Staat gerichtet, sondern darauf, die Staatsmacht allein in sich zu verkörpern. Die freiheitliche Demokratie dagegen muß sich ihrem Wesen nach zu der Auffassung bekennen, daß es im Bereich der politischen Grundanschauungen eine beweisbare und unwiderlegbare Richtigkeit nicht gibt […].“14

Als das Gericht die stalinistische kommunistische Partei verbot, prüfte es die von dieser Partei vorgebrachten Argumente nicht, untersuchte nicht, ob sie richtig oder falsch waren, bestand aber darauf, dass es keinen Beweis für deren Richtigkeit geben kann.15 Die unwiderlegbare Wahrheit des Bundesverfassungsgerichts ist, dass es keine unwiderlegbare Wahrheit geben darf: Es verfügte jedem, der in der Politik tätig war, den Verzicht auf solche Wahrheiten.

Während es in der britischen Rechtsdebatte derartige kreative „Argumentationen“ bisher nicht gab, ist das Ergebnis im Grunde dasselbe. Pluralismus und Meinungsfreiheit bedeuten nicht, dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments nachzugeben, wenn es um Pluralismus, Meinungsfreiheit und die Grundlagen der demokratischen Ordnung geht. In diesem Bereich sind sie keine Mittel, durch die sich das bessere Argument durchsetzt. Im Gegenteil ist genau das ausgeschlossen, wenn a priori entschieden ist, dass, auch wenn die Argumente überzeugend sein könnten, nicht danach gehandelt werden darf. Damit gilt: Entweder bedeuten Nationalstaat und Kapital Armut und Elend für die Massen oder sie tun es nicht. Dies zu klären erfordert Untersuchungen, Argumente und Debatten, die dann zum Handeln führen. Handlungen auszuschließen, die auf dem Ergebnis dieser Debatte beruhen, schließt die Möglichkeit einer vernünftigen Gesellschaft ohne Elend aus.

Die Meinungsfreiheit wird durch diesen Relativismus allerdings nicht verletzt. Zunächst bedeutet Meinungsfreiheit tatsächlich keine Garantie jenseits der Rede an sich. Zweitens ist Meinungsfreiheit eine Freiheits-Garantie unter Missachtung des Inhalts der Rede: Eine Aussage wird mit der Begründung verteidigt, dass es sich um eine Aussage handelt, nicht weil sie richtig, treffend, wichtig etc. ist.16 Diese Logik wird deutlich, wenn Menschen auf Kritik mit dem Hinweis auf ihre Berechtigung zu einer Meinung und ihre Freiheit, sie zu äußern, reagieren. Das ist anmaßend und bescheiden zugleich. Es ist anmaßend, weil es auf der Meinung besteht; es missachtet die Kritik statt sich darauf einzulassen. Es ist bescheiden, weil nichts anderes gewollt wird, als eine Meinung zu äußern, und es damit eine Absage an den Versuch ist, die Welt um sich herum zu beeinflussen oder zu verändern.

2 – Gleichheit

Gleichberechtigung aus Prinzip

Die gleiche Behandlung seiner Untertanen durch den Staat ist eine Frage des Prinzips: Zunächst bezieht sich der Staat auf alle seine Untertanen als Untertanen und als nichts anderes.17

Demokratische Staaten gewähren ihren Bürger*innen Gleichheit vor dem Gesetz. Das bedeutet erstens, dass Gesetze für alle gelten und zweitens, dass Gesetze ausnahmslos gelten. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN heißt es in Artikel 7: „Alle Menschen sind vor dem Gesetze gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz.“ Ähnlich lautet der eingangs zitierte Grundgesetzartikel 3.

Damit ist zum einen festgelegt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Dies setzt voraus, dass alle vor dem Gesetz stehen. Der Staat unterwirft alle und in dieser Hinsicht sind alle gleich. Als Untertanen des Staates sind wir alle gleich, wir alle müssen gehorchen. Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet unumstrittene Autorität des Staates – ohne Ausnahme.

Untertanen werden nicht nur unterworfen, sondern erhalten auch „gleichen Rechtsschutz“. Damit erklärt der Staat seine Untertanen untereinander gleich, d.h. sie haben alle die gleiche Autorität übereinander, Autorität in dem Sinne, was sie einander antun dürfen. Dies, zusammen mit der staatlichen Freiheitsgarantie, verbietet direkten Zwang eines*r Bürger*in gegen eine*n andere*n. Gleichheit vor dem Gesetz setzt den Staat als alleinigen Herrscher. Beispiele für unzulässige Formen des Zwangs sind Erpressung oder – historisch – die frühere Rolle der Kirche, einer Autorität, die den Anspruch erhob, eigene Regeln zu setzen; Staat und Kirche mussten daher mit Eingriffen des jeweils anderen in ihre Herrschaft umgehen.

Ein weiteres Beispiel: Der Staat schließt einige Formen patriarchaler Gesellschaftsbeziehungen aus, z.B. den direkten Zwang auf Frauen durch Männer. Während demokratische Staaten Frauen nicht immer als vollwertige Untertanen vor dem Gesetz anerkannten, änderte sich dies schließlich und Staaten erließen Gesetze, die Ehemännern die Anwendung unmittelbarer Gewalt untersagten. 1895 wurde in London eine Sperrzeit für das Schlagen von Ehefrauen zwischen 22 und 7 Uhr als Verordnung eingeführt – weil der Lärm die Nachbarn wach hielt – ein Beispiel, dass der Staat Frauen nicht als vollwertige Subjekte über ihren eigenen Körper anerkannte. Heutzutage fordert der Staat jedoch generell, dass Frauen von ihren Männern oder von anderen Bürger*innen nicht mehr „diszipliniert“ werden dürfen. Davon ausgenommen sind natürlich Polizist*innen bei der rechtmäßigen Ausübung ihres Amtes, d.h. Gewaltanwendung gegen Menschen zur Durchsetzung des Gesetzes. Insofern der Staat vor Schaden durch konkurrierende Gewaltanwender*innen schützt, schützt er seine Bürger*innen als Bürger*innen. Da es jedoch seine Subjekte als Material für seine Zwecke schützt, schützt er sie nicht per se vor Schaden. Was der Staat schützt, ist die Geltung des Rechts.

Gleichheit vor dem Gesetz ist das Prinzip, mit dem die unangefochtene Herrschaft des Staates durchgesetzt wird.

Gleichbehandlung und ihr Ergebnis

Gleichbehandlung gleicht Unterschiede nicht aus, sondern lässt sie wirksam werden.

Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet nicht, dass der Staat darauf abzielt, bei den Leuten eine gleiche Lebenslage zu erzeugen. D.h. der Staat produziert keine gleichen Lebensumstände bei den Untertanen, wenn er sie gleich behandelt, und will das auch nicht. Diese Thematik wird manchmal unter Gerechtigkeit versus Gleichheit diskutiert; die weiter verbreitete Unterscheidung ist soziale Gerechtigkeit versus formale Gleichheit.

Tatsächlich löscht die Gleichbehandlung von Menschen, die unterschiedlich (ausgestattet) sind, in einer bestimmten Situation die bestehenden Unterschiede nicht aus. Wenn wir eine kleine und eine große Person auffordern, eine Flasche Wein aus dem obersten Regal zu holen – der Gewinner darf sie behalten – ist das eine Form der Gleichbehandlung. Wir abstrahieren von den bestehenden Unterschieden, dadurch hat die große Person einen Vorteil.

Mit der Praxis der Gleichbehandlung von Menschen in bestimmter Hinsicht, in der sie nicht gleich sind, wird ein Standard gesetzt, dem jede*r gerecht werden muss. Im eben genannten Beispiel war der Standard eine bestimmte Körpergröße, den beide erfüllen mussten, wenn sie den Wein wollten.

Ein Beispiel, das fast jede*r aus eigener Erfahrung kennt, ist öffentliche Bildung. Jede*r muss den gleichen Standards von staatlich bzw. bildungspolitisch bestimmten Leistungen gerecht werden. Diese Standards gelten im Allgemeinen unabhängig davon, ob Schüler*innen mehr Zeit zum Lernen benötigen, bei Prüfungen nervös werden oder sich für das Thema interessieren. Durch die Durchsetzung dieser Standards wirken sich Unterschiede zwischen den Schüler*innen nicht nur auf ihr Lernen aus, sondern auch auf ihre zukünftigen Lebensentscheidungen. Auf diese Weise kommen die Unterschiede zwischen den Schüler*innen voll zur Geltung.

Dieser Zwang, einem festgelegten Standard gerecht zu werden, lässt sich jedoch am besten am freien und gleichberechtigten Tausch demonstrieren. Am Markt stehen sich alle Teilnehmer*innen als Gleichberechtigte gegenüber. Die Macht der Teilnehmer*innen übereinander ist die ihres jeweiligen Privateigentums. Das heißt, wie viel davon sie haben – in Geld gezählt – oder wie sehr andere es wollen können – wie viel Geld sie ausgeben wollen und können. Das ändert nichts daran, dass sich Arme und Reiche als Gleichberechtigte begegnen. Der so etablierte Standard, dem sie gleichermaßen gerecht werden müssen, ist, dass sie nur das verwenden können, was sie besitzen, um das zu bekommen, was sie wollen und brauchen. Wenn Äquivalente getauscht werden, hat natürlich der*diejenige, der*die mit weniger beginnt, am Ende immer noch weniger. Auch Arbeiter*innen und Kapitalist*innen begegnen sich auf dem Arbeitsmarkt als gleichberechtigte Besitzer*innen ihres jeweiligen Eigentums: Arbeitskraft und Geld. Während der materielle Inhalt ihrer Beziehung darin besteht, dass Erstere den Reichtum der Letzteren produzieren – mit einem Wort: Ausbeutung –, ist ihre Gleichheit dabei auf dem Markt nicht verletzt: Sie treffen sich als Eigentümer*innen ihres jeweiligen Besitzes. Dass man besitzen muss, um sich selbst zu erhalten, ist der gesetzte Maßstab, der stumme Zwang, die Gleichberechtigung, die jedem*r im wirtschaftlichen Bereich gewährt wird. Die Verwirklichung von Gleichheit in dieser Hinsicht läuft darauf hinaus, dass das Nicht-gerecht-werden diesem Standard gegenüber Armut und im schlimmsten Fall Tod durch Armut bedeutet.

Privateigentum gilt universell und gleichermaßen für Menschen mit und ohne ausreichendem Vermögen. Der Staat erklärt sich für nicht zuständig für die sich verallgemeinernden nachteiligen Auswirkungen auf viele Menschen, die sich auf Grundlage seiner gleichen Garantie des Privateigentums und den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen ergeben. Er sieht nur Bürger*innen – dass die meisten von ihnen arm sind, ist ihre private Notlage.

Wenn der Staat seine Gleichgültigkeit gegenüber den Unterschieden zwischen den Menschen erklärt, wenn er von Arm und Reich, von Arbeiter*innen und Kapitalist*innen, von Gutsbesitzer*innen und Pächter*innen abstrahiert, kurz: wenn der Staat seine Untertanen als Bürger*innen auffasst und behandelt, erklärt er, dass er – um das Wenigste zu sagen – diese Unterschiede toleriert. Er sagt damit: Eure Kämpfe, Probleme, Differenzen gehen mich nicht als etwas an, das ich beheben sollte; ich ignoriere diese Unterschiede bei meiner Behandlung von Euch; dass es zu diesen Unterschieden kommt, geht mich nichts an.18

Aber der Staat reagiert nicht auf die Umstände, die er einfach so vorfinden würde. Er begegnet nicht plötzlich Vermietern und Mietern und ignoriert dann ihre Unterschiede.19 Die Umstände, für die er sich nicht zuständig erklärt, werden tatsächlich vom Staat garantiert, geschützt und genehmigt. Die Rollen Vermieter und Mieter erfordern beispielsweise die Garantie von Grundbesitz durch den Staat. Privateigentum bedeutet, dass Vermieter*innen ihre Eigentumsrechte an Grundstücken verwerten können, indem sie diese an Personen ohne solchen Eigentumstitel, also an Mieter*innen, vermieten. Da der Standard des Privateigentums für alle gleichermaßen gilt, hängen letztere davon ab, eine Mietwohnung zu finden.20

Damit ist ein Schluss fällig: Wenn der Staat sich unzuständig für die Unterschiede in der Gesellschaft erklärt, die sich auf Basis seines Gleichheitsprinzip zielsicher immer wieder einstellen, dann will er auch, dass es genau diese Unterschiede gibt. Er toleriert nicht einfach die Unterschiede, er will dass es Lohnarbeiter, Kapitalisten, Mieter, Vermieter, Käufer, Verkäufer, Schuldner, Gläubiger usw. fortlaufend gibt. Denn das gesamtgesellschaftliche Resultat ihres ökonomischen Kampfes untereinander ist das in Geld bemessene Wachstum der Volkswirtschaft. Und dieses ist eine gute Basis für seine Macht. Kurzum: Mit der Gleichheit setzt der Staat die Klassengesellschaft in die Welt und will sie damit erhalten.

Gleichbehandlung braucht Überzeugung

Gleichbehandlung bedeutet, dass eine*r wie der*die andere behandelt wird. Der Staat verbietet Hausbesetzungen für alle, gleichermaßen für Vermieter*innen und Obdachlose. Ihre jeweils besonderen Situationen sind unerheblich, so gehen die Regeln.

Das enthält Potential für Konflikte. Eine der beiden Gruppen – die Obdachlosen – sind von Lebensnotwendigkeiten ausgeschlossen, weil ihre Besonderheit – keine Wohnung zu haben – ignoriert wird. Um diese Situation aufrechtzuerhalten, muss der Staat in der Lage sein, Gewalt anzuwenden.

Anders ausgedrückt: Gleichbehandlung schließt die Rücksichtslosigkeit gegen die Besonderheit ein. Der Staat muss die Betroffenen daher zwingen, die Gleichbehandlung und die daraus resultierenden Konsequenzen auszuhalten. Das Durchsetzen von Gleichheit erfordert genau das: Durchsetzung, Autorität und – in letzter Instanz – Gewalt.

Recht – Konkretisierung von Gleichberechtigung

Der Staat nimmtrechtliche Unterscheidungen zwischen seinen Bürger*innenvor, d.h. Unterschiede, die er in seinen Gesetzen anerkennt gegenüber solchen, die er nicht kennt: Er kennt und würdigt nur bestimmte „Rollen“ wie Vermieter und Mieter, Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Wenn der Staat seinen Untertanen Regeln auferlegt, kann man sich fragen, wie das Prinzip auf alle Situationen anwendbar ist, die es regulieren soll. Der Staat postuliert, dass sich jeder an das Gesetz halten muss, dass Strafe droht, wenn man es nicht tut, oder konkreter, dass neben anderem das Privateigentum jedes*r Einzelnen geschützt wird. Aber seine Bürger*innen stehen sich aufgrund der sozialen Beziehungen, die sich auf Basis dieser allgemeinen Regeln entwickeln, in verschiedenen „Rollen“ gegenüber: sie begegnen sich als Vermieter und Mieter, als Arbeiter und Kapitalisten, als Ehemann und Ehefrau, als Ehefrau und Ehefrau usw. Diese Situationen bringen für den Staat die Notwendigkeit von Regulierung mit sich; daher erkennt das Gesetz nicht nur Bürger an, sondern auch Grundeigentümer und Mieter, Arbeiter und Kapitalisten, Ehepartner usw.

Gleichheit bedeutet hier, dass das Gesetz Mieter und Vermieter anerkennt, nicht aber Mieter Schmidt und Vermieterin Müller. Es ignoriert die Besonderheiten des*der Mieter*in, erklärt aber, dass es jede*n in der Lage eines Mieters als Mieter behandeln wird und alles andere nicht zählt. Bei dieser Anerkennung von Unterschieden besteht es also immer noch auf eine grundsätzliche Ebene von Gleichheit: Das Gesetz gilt für jede*n Mieter*in. Der Staat wählt nicht aus und macht bestimmte Personen zu Mieter*innen und andere zu Vermieter*innen. Die Bürger*innen tun dies selbst auf der Grundlage des Gesetzes. Der Staat wendet Regeln für jeden an, der sich in einer solchen Situation befindet. Dies ist kein Verstoß gegen die Gleichheit vor dem Gesetz, sondern ihre Konkretisierung. Das heißt, die Anwendung von Gleichheit auf die sozialen Situationen, die sie regeln soll.

Antidiskriminierungsgesetz

Mittels Antidiskriminierungsgesetzen erklärt der Staat konkurrierende Prinzipien für ungültig und die Prinzipien seiner Herrschaft als ihnen übergeordnet. Das heißt, andere Unterschiede zwischen seinen Bürger*innen werden den Unterschieden untergeordnet, die der Staat schätzt.

Der Staat erkennt nur Unterschiede an, die für seinen Zweck relevant sind (Arbeiter/Kapitalist, Mieter/Vermieter u.a.), nicht aber Unterschiede, die er für nebensächlich hält: „Rasse“, „Geschlecht“, „Peter“ zu heißen usw.21 Allein das Gesetz und seine Zweckbestimmung sind maßgeblich. Wenn beispielsweise die Europäische Menschenrechtskonvention Diskriminierung aufgrund von „Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Eigentum, Geburt oder sonstigem Status“ verbietet, stellt sie fest, dass es nicht im Interesse der unterzeichnenden Staaten ist, dass das Schicksal einer Person von diesen Kategorien diktiert wird. Anders ausgedrückt, ihre wirtschaftliche Lage sollte allein auf Grundlage ihrer ökonomischen Leistung entschieden werden, anstatt auf – heute als störend betrachteten – Gründen wie Rassismus.

Mit Antidiskriminierungsgesetzen, die Diskriminierung nicht nur bei staatlichen, sondern auch bei Handlungen seiner Bürger*innen verbieten, bestimmt der Staat, dass über das Schicksal einer Person nur nach seinen Prinzipien entschieden wird. Indem er andere Prinzipien wie Rassismus ausschließt, unterstreicht er seine Autorität. Er verlangt von seinen Untertanen, dass sie sich mit ihrem Handeln an diese Prinzipien halten. Bei „Affirmative Action“ geht der Staat sogar soweit, bestimmte Gruppen gegenüber andere Gruppen in gewissen Situationen explizit zu bevorzugen, um seine Prinzipien zu stärken. Beispielsweise drücken verbindliche Quoten für Frauen im Management die Besorgnis aus, dass der Ausschluss von Frauen aus diesen Positionen „die beste Person für den Job“ untergräbt, wenn es sich bei dieser Person um eine Frau handelt. Dabei erkennt der Staat an, dass andere Prinzipien möglicherweise die eigenen unterlaufen und tritt ihnen aktiv entgegen, falls er das als Problem wahrnimmt.22

Das soll nicht heißen, dass der Staat und seine Gesetze nichts mit beispielsweise Rassismus zu tun haben. Im Gegenteil, er selbst als Nationalstaat bildet eine Grundlage von Rassismus. Der Punkt hier ist, dass er „Rasse“ nicht positiv als Kategorie anerkennt, auf die er seine Gesetze gründet.23

Sicher, die (rechtliche) Realität sieht anders aus. Menschen in verschiedenen Positionen des Staatsapparates sind oft genug beispielsweise sexistisch in ihrer Entscheidungsfindung – explizit oder nicht, bewusst oder nicht. Solange dies nicht angefochten (und durch zuständige Instanzen bestätigt) wird, geschieht das ungeachtet der widersprechenden Gesetzeslage. Zum Beispiel werden Frauen im Alltag immer noch diskriminiert, wenn sie von den Personalabteilungen schlicht für zu „dumm“ und „schwach“ für höhere Führungsaufgaben gehalten werden. Dies liegt an der langen Geschichte des Staates selbst, der Frauen nur eingeschränkt als Subjekte behandelte, den damit verbundenen Geschlechterrollen und dem Umgang des Kapitals mit ihnen. Diese Rollen sind nach wie vor verbreitet und scheinen in manchen Bereichen jetzt sogar selbstverständlicher zu sein als noch vor einigen Jahrzehnten. All dies bedeutet, dass man im Recht finden kann, was rechtsgültig ist und was vor Gericht gebracht werden kann, wenn es nicht befolgt wird. Aber was in Paragrafen festgehalten ist, spiegelt nicht unbedingt die soziale Realität. Tatsächlich existieren viele Gesetze genau als Reaktion auf das, was in der Gesellschaft vor sich geht, was aber in den Augen des Gesetzgebers nicht sein soll.

Es muss betont werden, dass es auch in der Entwicklung moderner Staaten nicht die Notwendigkeit gab, immer mehr Gruppen als vollwertige Bürger anzuerkennen (Frauen, Behinderte usw.), was zu einer fast vollständigen Nichtdiskriminierung der früher als ungleich behandelten Personen führte. Außer Kindern und geistig behinderten Menschen gelten heute viele Gruppen als vollwertige Subjekte, aber es könnte Gründe für eine Regierung geben, diese Entwicklung wieder umzukehren. Das lässt sich nicht vorhersagen – beispielsweise ob alle modernen Staaten Homo- gleich Heterosexuellen behandeln (z.B. im Steuer- und Adoptionsrecht) –, sondern wird sich zeigen. Der Staat ist nicht in der Mission unterwegs, irgendein Ideal von Gleichheit zu verwirklichen, sondern über eine kapitalistische Wirtschaft zu herrschen, wofür Gleichheit ein adäquates Mittel ist.

3 – Jenseits von Recht und Markt

Freiheit und Gleichheit als Täuschungin der kapitalistischen Gesellschaft anzuprangern, verkennt die spezifischen Formen, in denen sie tatsächlich existieren: Hier sind Herrschaft und Ausbeutung in Freiheit und Gleichheit begründet.

Viele Menschen behaupten eine andere Vorstellung von Freiheit und Gleichheit zu haben, als das, was in dieser Gesellschaft als Freiheit und Gleichheit gilt. Einige haben tatsächlich abweichende Vorstellungen. Tatsächlich gibt es Möglichkeiten für andere Vorstellungen von Freiheit. Jeder rationale Freiheitsbegriff muss zumindest auf Notwendigkeiten – wie dass wir alle essen müssen – und die Möglichkeiten zu deren Realisierung reflektieren. Genau diese Reflexion ist ausdrücklich ausgeschlossen durch die allgemein bürgerlich genannte Freiheit.

Auf der Existenz eines rationalen Freiheits- oder Gleichheitsbegriffs zu bestehen, bedeutet jedoch nicht, die Existenz dieser Prinzipien in dieser Gesellschaft zu leugnen. Ersteres mag eine produktive Debatte sein oder auch nicht, mit Letzterem wird ein falsches Urteil über die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir zu leben gezwungen sind, gefällt. Privateigentum ist eine Verwirklichung von Freiheit; Gleichheit vor dem Gesetz ist eine Verwirklichung von Gleichheit. Als solche darf die in dieser Gesellschaft verwirklichte Gleichheit und Freiheit nicht durch Appelle für eine „volle“ Verwirklichung von Gleichheit und Freiheit oder durch Leugnung ihrer Existenz zurückgewiesen werden. Die Kritik an Herrschaft und Ausbeutung ist als Kritik an den bestehenden Prinzipien von Freiheit und Gleichheit zu formulieren.

Darüber hinaus sollte man vorsichtig sein, was man fordert, wenn man im Namen von Freiheit und Gleichheit kämpft. Wenn beispielsweise antirassistische oder feministische Aktivist*innen „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ fordern, sollte man bedenken, dass Gleichstellung als solche kein bestimmtes Ergebnis vorgibt. Gleichheit könnte auch mit einer Abwärtskorrektur von Löhnen verwirklicht werden, die höher sind als die der Benachteiligten. In beiden Fällen, wenn die niedrigen Löhne steigen oder die Hohen fallen, würde Lohngleichheit realisiert. Sich darüber zu beschweren, dass andere mehr haben, kann zu der Forderung (oder dem Ergebnis) führen, dass auch die anderen weniger haben. Wenn Armut in dieser Form des Vergleich angeprangert wird, z.B. wenn Armut und Reichtum im Vereinigten Königreich gegenübergestellt werden, kann dies außerdem mit dem Vergleich von Armut in Großbritannien und beispielsweise Rumänien erwidert werden. Solche Kritik ausschließlich von Form von Vergleichen spricht lediglich an, dass manche Menschen mehr haben als andere, anstatt zu kritisieren, dass die meisten Menschen nicht haben, was sie wollen und brauchen.

Wenn linke Aktivist*innen die Schließung des Gender Gap oder „Gleiche Rechte für alle“ fordern, lässt sich natürlich ihre Absicht erraten: ein besseres Leben für die Diskriminierten. Dieser Punkt kommt jedoch in der Forderung nach Gleichberechtigung nicht richtig zum Ausdruck und verkennt die tatsächliche Gleichberechtigung als Grundlage von Ausbeutung in dieser Gesellschaft.

Im Gegensatz dazu ein Beispiel für einen Slogan, der materielle Verbesserungen für alle im Namen von Gleichheit und Gerechtigkeit völlig außer Acht lässt: „Diebstahl einer Flasche Wasser – ab ins Gefängnis. Größter Finanzbetrug aller Zeiten – keine Anklage“. Das kontrastiert den Libor-Skandal mit den harten Verurteilungen der London-Riots vom August 2011. Die beiden im Slogan gegenübergestellten Fälle sind jedoch nur durch ein Ideal gleicher Strafen verbunden: Gerechtigkeit. Randalierer*innen wurden nicht hart verurteilt, weil Libor-Betrüger*innen vom Haken gelassen werden und umgekehrt. Die Verurteilung des ehemaligen Chefs von Barclays bringt Randalierer*innen nicht aus dem Gefängnis. Mildere Verurteilungen gegen Randalierer*innen bedeuten nicht härtere Strafen gegen Banker.24 Bei diesem Slogan geht es nicht um wirkliche materielle Verbesserungen, sondern um einen Appell für gleiche Maßstäbe beim Strafen.

Anhang: Marx' Kapital über Freiheit und Gleichheit und ihre Umkehrung

Gegen die in diesem Text vorgebrachten Argumente könnte man einwenden, dass sie auf einer oberflächlichen Ebene verhaften: Es geht um Recht und Tausch, es werden aber die unter der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft wirkenden ökonomische Gesetze nicht anerkannt, wie sie Karl Marx im Kapital entwickelt, worauf dieser Text andererseits verweist und außerdem behauptet, daraus Argumente entnommen zu haben.

Tatsächlich charakterisiert Marx in Band 1 des Kapitals zunächst die Zirkulation – d.h. den Markt – als vollkommene Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit: „Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine." (MEW 23, S. 189f., siehe auch http://mlwerke.de/me/me23)

Aber, und hier knüpft diese Kritik an, zeichnet Marx im darauffolgenden Absatz ein ganz anderes Bild: „Beim Scheiden von dieser Sphäre der einfachen Zirkulation oder des Warenaustausches, woraus der Freihändler vulgaris Anschauungen, Begriffe und Maßstab für sein Urteil über die Gesellschaft des Kapitals und der Lohnarbeit entlehnt, verwandelt sich, so scheint es, schon in etwas die Physiognomie unsrer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei.“ (ebd. S. 190f.)

Es scheint also, dass Freiheit und Gleichheit als bloß oberflächliche Erscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft identifiziert werden, d.h. nicht als wesentliche Bestimmungen.25 Marx greift dies in Kapitel 22 wieder auf, wo er den Übergang vom Mehrwert zum Kapital diskutiert – der Überschuss eines Produktionszyklus wird reinvestiert, um einen weiteren Produktionszyklus zu starten. Es wird also der abstrakte Reichtum, den die Arbeiter*innen im vorigen Produktionszyklus produziert haben, verwendet, um ihre Löhne im aktuellen Produktionsprozess zu bezahlen oder sogar um die Produktion zu erweitern. Die Arbeiter*innen werden mit der Geldform ihrer eigenen Produkte bezahlt, aber diese Tatsache ist verborgen: „Der Austausch von Äquivalenten, der als die ursprüngliche Operation erschien, hat sich so gedreht, daß nur zum Schein ausgetauscht wird, indem erstens der gegen Arbeitskraft ausgetauschte Kapitalteil selbst nur ein Teil des ohne Äquivalent angeeigneten fremden Arbeitsproduktes ist und zweitens von seinem Produzenten, dem Arbeiter, nicht nur ersetzt, sondern mit neuem Surplus ersetzt werden muß. Das Verhältnis des Austausches zwischen Kapitalist und Arbeiter wird also nur ein dem Zirkulationsprozeß angehöriger Schein, bloße Form, die dem Inhalt selbst fremd ist und ihn nur mystifiziert.“ (ebd. S. 609)

Aus diesen Argumenten folgern viele Kommentatoren, dass freier und gleichberechtigter Austausch eine Täuschung ist und die einzige Wahrheit der kapitalistischen Gesellschaft die von Herrschaft und Ausbeutung ist. Demzufolge könnte man meinen, dass die in diesem Text gemachten Punkte an der Sache vorbeigehen. Daher, so das Argument, sei es eine logische Konsequenz, diese Täuschung (im Namen echter Freiheit und Gleichheit) zu entlarven.

„Täuschung“ ist jedoch nicht gleichbedeutend mit „Anschein“ oder „Form“. Ersteres bestreitet, dass im Bereich der Zirkulation Freiheit und Gleichheit herrschen und dadurch Ausbeutung und Herrschaft im Bereich der Produktion ermöglicht werden. Kapitalist*innen beuten Arbeiter*innen am Arbeitsplatz aus, denen sie auf dem Arbeitsmarkt als Freie und Gleiche begegnet sind. Die Art und Weise, wie sie zusammenkommen, ist frei und gleich, da kein direkter Zwang vom Kapitalisten ausgeübt wird. Die Lohnabhängigen sind frei. Ihr Zweck, von der Arbeit leben zu wollen, den sie mit Hilfe der staatlich gewährten Freiheit realisieren wollen, geht nicht oder nur sehr prekär auf. Um die kapitalistische Produktionsweise zu verstehen, muss man verstehen, wie Freiheit und Gleichheit als Prinzipien der Sphäre der Zirkulation die Grundlage für Herrschaft sowie Ausbeutung in der Sphäre der Produktion sind26, statt lediglich das Ideal von Freiheit und Gleichheit gegen ihre Realität zu setzen.27

 

1Dies ist eine Übersetzung des Textes „Liberté, Égalité and such matters“. Die Beispiele stammen überwiegend aus Großbritannien und wurden nicht extra auf die Situation in Deutschland hin geändert. An einigen Stellen wurde der Ursprungstext auch inhaltlich überarbeitet.

2Leon de Mattis, Was ist Kommunisierung? in Sic #1, 2011. (Unsere Übersetzung)

3Es gibt nennenswerte Einschränkungen dieser Freiheit wie Umweltschutz usw., aber diese schränken das Prinzip eher ein und heben es nicht auf. Solche Regelungen basieren auf dem Privateigentum und sehen Ausnahmen vor.

4Obwohl es in diesem Teil um den kapitalistischen Staat und die kapitalistische Ökonomie geht, verwenden wir an dieser Stelle bewusst „Laden“ statt „Fabrik“, um die Abstraktionsebene hervorzuheben. Hier geht es um private Eigentümer generell – die Differenzierung in Klassen folgt im nächsten Abschnitt. Tatsächlich konfrontiert der Staat seine Bürger*innen auch nicht mit der Forderung, Kapital zu akkumulieren und er ordnet sie auch nicht einer der Wirtschaftsklassen zu, sondern schafft die Grundlagen für solche Aktivitäten, indem er Privateigentum garantiert. Anstatt zu sagen: „Es ist leicht zu erkennen, dass wirtschaftliche Freiheit die Freiheit des Kapitals zur Ausbeutung der Arbeitskraft bedeutet“, wird in diesem Abschnitt untersucht, was die Garantie der wirtschaftlichen Freiheit an sich und für alle bedeutet.

5Der Interessensgegensatz, der in dem Aufeinanderprallen der Freiheiten mit Privateigentum steckt, mag an dieser Stelle der Darstellung noch schwach erscheinen. Es könnte zum Beispiel zufällig auch so laufen, dass nach einem Tausch alle relativ zufrieden nach Hause gehen. Hier endet die Geschichte jedoch nicht, sondern beginnt. Beim Tausch besteht zum Beispiel die Freiheit, sich mit einer anderen Person auf ein besseres Geschäft einzulassen. Wenn ein Blumentopfhersteller Blumentöpfe billiger produziert als die anderen, dann kann dieser Blumentopfhersteller die Konkurrenz unterbieten und hat einen Vorteil in Form von mehr Warenabsatz. Das hat zur Folge, dass sich Blumentopfhersteller gegenseitig einen Produktivitätsstandard auferlegen; wer nicht mithalten kann, geht einfach unter. Daher ist ein Gegensatz zwischen Blumentopfhersteller und Blumentopfhersteller impliziert. In diesem Text liegt unser Fokus darauf, den Beginn dieser Entwicklung auf die Freiheitsgarantie des bürgerlichen Staates zu beziehen. Die Entwicklung der Wirtschaftsgesetze auf der Grundlage dieser Garantie wird in Karl Marx' Kapital dargestellt.

6Der berühmte Marxsche Satz des „im doppelten Sinne freien Arbeiters“, bedeutet genau das: Arbeiter*innen sind frei von direktem Zwang und sie sind frei von Produktionsmitteln – sie haben keine.

7http://youtu.be/0Bmhjf0rKe8 (letzter Zugriff 27. Oktober 2022)

8Vorstellungen eines Naturrechts beruhen auf der Fiktion natürlich vorhandener Rechte, die der Staat respektieren sollte. Diese gibt es jedoch nicht – es ist immer eine Macht wie der Staat, die Rechte gewährt und entziehen kann.

9Es ist der Staat, der Menschen wegen Besitzes und Verbreitung illegaler Schriften ins Gefängnis bringt. Es ist der Staat, der das Tragen eines T-Shirts mit dem Namen oder dem Logo bestimmter Organisationen wie FARC, ETA, PKK, Hamas und dem 17. November zu einer Straftat macht. Es ist der Staat, der Menschen mit bestimmten politischen Ansichten – BNP in Großbritannien, Kommunisten in Deutschland – auf (bestimmten) Stellen im öffentlichen Dienst verbietet. Der Staat bedroht die Meinungsfreiheit der Menschen nicht trotz der Tatsache, dass er das Recht gewährt, sondern weil er die Befugnis hat, dieses Recht zu gewähren und zu verweigern.

10Eine methodische Anmerkung: Die Funktion von etwas (Redefreiheit) für etwas Anderes (Regierung) zu erklären, sollte nicht mit damit verwechselt werden, was dieses Etwas (Redefreiheit) ist. Hier geht es darum darzustellen, warum der Staat ein Interesse an der Meinungsfreiheit hat. Was Meinungsfreiheit ist, wird im nächsten Abschnitt klarer: Das Recht zu sprechen, nicht mehr und nicht weniger.

11Dies ist in europäischen Staaten stärker ausgeprägt – „Anti-Extremismus“-Klauseln in Deutschland, „libel law“ in Großbritannien – als in den USA, aber mit dem Inkrafttreten des Patriot Acts haben auch die USA Beschränkungen eingeführt, was gesagt werden darf, z.B. zur Unterstützung einer Gruppe auf einer Terrorliste. http://www.nytimes.com/2010/02/11/us/11law.html (letzter Zugriff 4. Mai 2013)

12Zitiert nach https://en.wikipedia.org/wiki/Royal_prerogative_in_the_United_Kingdom, Hervorhebung hinzugefügt, unsere Übersetzung (letzter Zugriff 30. November 2021).

13TRS Allan, The limits of parliamentary sovereignity, 1985, PL 614, 620–22, 623 24 und 627, Hervorhebung hinzugefügt, unsere Übersetzung.

14Zitiert nach https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv005085.html (letzter Zugriff 2.12.2021), Hervorhebung hinzugefügt.

15Die kommunistische Partei argumentierte, dass sie für eine Zukunft stehe, die unweigerlich eintreten werde. Nach ihrer Geschichtsphilosophie war der Sozialismus der nächste Schritt in der Entwicklung der Zivilisation, aber die Zeit war noch nicht reif dafür. Die Abschaffung des westdeutschen Staates würde die Partei daher nicht anstreben. Zur Kritik der zugrunde liegenden Theorie siehe: Der historische Materialismus – eine antirevolutionäre Revolutionstheorie https://antinational.org/der-historische-materialismus-eine-antirevolutionäre-revolutionstheorie/

16Die Absurdität dieser Position kommt treffend zum Ausdruck in Voltaires oft zitiertem Ausspruch: "Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, daß Sie sie äußern dürfen."

17Mit „Untertan" ist hier jede*r, die*der von einem Staat zu seinem*r Bürger*in, seinem Material, seinem Subjekt erklärt wird, gemeint. „Gesetzlich unterworfen“ sind natürlich alle Personen, die sich auf dem Staatsgebiet aufhalten. Aber diejenigen, an denen der Staat ein besonderes Interesse hat, die sein Material sind, die die Regierung wählen sollen und aus denen sich das Militär rekrutiert – all das sind die Untertanen des Staates im engeren Sinne: seine Bürger*innen. Allerdings werden nicht alle Bürger*innen gleich behandelt, d.h. nicht jede*r wird vollumfänglich als Person anerkannt. Eine Person muss über 18 Jahre alt sein (in vielen Fällen liegt die Grenze auch bei 14, 16 oder 21 Jahren). Vor diesem Alter will der Staat nicht davon ausgehen, dass der Untertan entscheidungsfähig ist, und erklärt (in den meisten Fällen) stattdessen einen oder zwei Elternteile oder einen Vormund für diesen Menschen rechtlich verantwortlich. Eine andere wichtige Gruppe, die ähnlich behandelt wird, sind Menschen, die vom Staat als „geistig behindert“ eingestuft werden.

18Nachträglich, wenn die Regeln des Marktes ihre Wirkung getan haben, zeigt der Staat zwar ein gewisses Interesse an der Not seiner Untertanen und stellt beispielsweise denen, die sich Wohnen nicht leisten können, Wohngeld zur Verfügung. Dies ist jedoch eine Reaktion auf soziale Bedingungen, die der Staat selbst ermöglicht und schützt. Er will, dass seine Bürger*innen ihre wirtschaftliche Reproduktion selbstständig betreiben, und wenn sie scheitern, unterstützt er ihren Fortbestand, aber nicht mehr. Anders ausgedrückt: Diese Interventionen beenden die Not der Bürger*innen nicht, sondern halten sie aufrecht.

19Gewiss haben die Leute Sachen besessen, bevor es demokratische Staaten gab. Aber die soziale Rolle des privaten Eigentümers, eine Rolle, die ein gegensätzliches Verhältnis zu anderen Menschen einschließt, erfordert eine Art Macht – entweder die eigene Waffe oder eine Autorität wie den Staat. Wenn es die eigene Waffe ist, die das Privateigentum schützt, ist dieses Eigentum so gut wie die Waffe, die es schützt. Gesetze und eine auf Privateigentum basierende Wirtschaft können nur mit Rechtsstaatlichkeit ungehindert von äußeren Einflüssen wie bessere Bewaffnung gedeihen.

20Es gibt eine ständige politische Debatte, welche Unterschiede ignoriert werden sollen und welche nicht. Einige eher linksgerichtete Sozialdemokraten streiten zum Beispiel manchmal über „ungleiche“ Verteilung des Landbesitzes – und kämpfen in manchen Ländern für eine Landreform. Das ist dann sicherlich ein etwas weniger formales Verständnis, was Gleichheit bedeutet. Doch Privateigentum als solches ist außerhalb der radikalen Linken kaum umstritten.

21Es gibt jedoch Bereiche, in denen Staaten die Frage nach „Geschlecht“ nicht als nebensächlich ansehen. Insbesondere in Bereichen, die die Reproduktion der Bevölkerung betreffen – Erziehung von Kindern und Ehe, beispielsweise Mutterschaftsurlaub – haben einige Staaten, darunter das Vereinigte Königreich, Gesetze, die sich direkt an Frauen richten. In den letzten Jahrzehnten wurden einige Gesetze in diesem Bereich überarbeitet, was die Erkenntnis widerspiegelt, dass die staatlichen Ziele auch ohne die Geltendmachung bestimmter vordergründiger Eigenheiten der Frau durch die jeweiligen Gesetze erreicht werden können.

22Offensichtlich gibt es einige Formen der Diskriminierung, gegen die Staaten weniger Energie aufwenden, während es andere Formen der Diskriminierung gibt, die nicht einmal in Antidiskriminierungsgesetzen anerkannt werden. Die Diskriminierung beispielsweise von intersexuellen Menschen wird von modernen Staaten derzeit nicht als dringliches Thema angesehen.

23Die falsche Kategorie „Rasse“ wird im Antidiskriminierungsrecht in der Regel indirekt anerkannt, indem sie diese explizit ausschließt, d.h. dass niemand aufgrund der „Rasse“ diskriminiert werden darf. Dies impliziert, dass es so etwas wie „Rasse“ gibt. Es ist jedoch auch möglich, dass ein solches Gesetz lediglich anerkennt, dass rassistische Diskriminierung vorliegt.

24Zur Kritik des staatlichen Strafens siehe https://gegen-kapital-und-nation.org/das-staatliche-strafen/

25David Harvey ist einer, der komplett verpasst, wie die Entwicklung von Freiheit und Gleichheit hin zu Herrschaft und Ausbeutung im Kapital erklärt wird. In seinem „A Companion To Marx' Capital“ schreibt er auf Seite 100 (unsere Übersetzung): „Heutzutage werden uns die positiven Aspekte der Freiheit angepriesen und wir sollen akzeptieren, dass die negativen Aspekte unvermeidlich oder sogar natürlich seien. Liberale Theorie basiert auf Doktrinen von Rechten und Freiheiten des Einzelnen. Von Locke bis Hayek und anderen haben alle Ideologen des Liberalismus und Neoliberalismus behauptet, dass die beste Verteidigung solcher individueller Rechte und Freiheiten ein Marktsystem sei, dass auf Privateigentum und den bürgerlichen Regeln der Unabhängigkeit, Geben und Nehmen und rechtlichem Individualismus beruht, die Marx beschrieb (und, zu investigativen Zwecken, in Kapitel 2 akzeptiert).“ Anstatt sich also auf das von Marx vorgebrachte Argument einzulassen, dass individuelle Rechte und Freiheiten Voraussetzungen für den Kapitalismus sind, bespricht David Harvey, ob wir Kapitalismus denn brauchen, um diese Rechte zu verteidigen. Er nimmt Marx’ Argument und stellt es von den Füßen auf den Kopf. Der meistgelesene englischsprachige Kommentator des Kapitals schreibt weiter: „Da es schwierig ist, gegen universelle Freiheitsideale zu protestieren, lassen wir uns leicht von der Fabel überzeugen, dass die guten Freiheiten (wie der Marktwahl) die schlechten (wie die Freiheit der Kapitalisten, die Arbeit anderer auszubeuten) bei weitem überwiegen.“ Dieser Autor ist geistig so in die Prinzipien dieser Gesellschaft verwickelt, dass er glatt an die Wahl auf dem Markt denkt, wenn es ihm darum geht, eine „positive“ Freiheit zu benennen, und alles, was er über die Beziehung zwischen „guter“ und „schlechter“ Freiheit zu sagen hat, ist, dass sie auseinanderfallen in gute Freiheit auf der einen, schlechte auf der anderen Seite; eine Ying-Yang-Dialektik. „Und wenn es ein wenig Repression braucht, um den Leuten den Zugang zu Produktionsmitteln vorzuenthalten und den Fortbestand von Marktfreiheiten zu sichern, dann ist das auch gerechtfertigt. Schon bald befinden wir uns mitten im McCarthyismus oder Guantanamo Bay ohne ein oppositionelles Bein, auf dem wir zu stehen vermögen.“ fährt der Mann fort, der offenbar nie ein oppositionelles Bein hatte, um darauf zu stehen.

26„Sosehr die kapitalistische Aneignungsweise also den ursprünglichen Gesetzen der Warenproduktion ins Gesicht zu schlagen scheint, so entspringt sie doch keineswegs aus der Verletzung, sondern im Gegenteil aus der Anwendung dieser Gesetze.“ (MEW 23, S. 610)

27„Ihnen [die Sozialisten, die Freiheit und Gleichheit gegen die bürgerliche Realität durchsetzen wollen; Autor] ist zu antworten: daß der Tauschwert oder näher das Geldsystem in der Tat das System der Gleichheit und Freiheit ist und daß, was ihnen in der näheren Entwicklung des Systems störend entgegentritt, ihm immanente Störungen sind, eben die Verwirklichung der Gleichheit und Freiheit, die, sich ausweisen als Ungleichheit und Unfreiheit. Es ist ein ebenso frommer wie dummer Wunsch, daß der Tauschwert sich nicht zum Kapital entwickle oder die den Tauschwert produzierende Arbeit zur Lohnarbeit. Was die Herren von den bürgerlichen Apologeten unterscheidet, ist auf der einen Seite das Gefühl der Widersprüche, die das System einschließt; auf der andren der Utopismus, den notwendigen Unterschied zwischen der realen und idealen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu begreifen und daher das überflüssige Geschäft vornehmen zu wollen, den ideellen Ausdruck selbst wieder realisieren zu wollen, da er in der Tat nur das Lichtbild dieser Realität ist.“ (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, S. 174.)