08.09.2021 PDF

Warum kommen so viele Nationalist*innen auf antisemitische Urteile? #50F50A

Immer wieder sind Linke und Liberale erstaunt und entsetzt, dass so viele1 Leute im 21. Jahrhundert noch Antisemit*innen sind. Häufig wird dann weit in die Geschichte ausgeholt, um zu erklären, dass der Antisemitismus irgendwie schon immer da gewesen sei – was übrigens, selbst wenn es stimmen würde, auch keine Erklärung wäre. Auch dann wäre ja zu begründen, warum er sich bis heute halten konnte, anders als beispielsweise die Hexenverfolgung. Gerne werden Antisemit*innen auch sozialpsychologisch als Mängelwesen pathologisiert: Sozialneid, Sexualnöte, Versagensängste, Probleme mit dem Über-Ich, magisches Weltbild usw.2 Und so unsympathisch Antisemit*innen auch zumeist sind, und sie als Individuen auch alle möglichen Macken haben mögen – das verharmlost die Sache doch ziemlich. Und es verschleiert, wie einfach der Übergang vom stinknormalen Wald-und-Wiesen-Nationalismus zum Antisemitismus ist. Den wollen wir im Weiteren zeigen.

  1. Fast alle Nationalist*innen glauben, es gäbe viele verschiedene Völker in der Welt. Und zwar, weil jedes Volk ein spezifischer Menschenschlag, also durch vorstaatliche Gemeinsamkeiten definiert sei. (In Wirklichkeit ist es so, dass Staaten Menschen als Volk sortieren, in Beschlag nehmen und behandeln.) Viele Nationalist*innen halten diese Gemeinsamkeiten für besondere Charaktermerkmale und sprechen ihrem „eigenen“ Volk die vorzüglichsten Eigenschaften zu. Ein Volksangehöriger sei da am Besten aufgehoben, wo er im „eigenen“ Staat lebt, also von Leuten regiert wird und mit Leuten zusammen lebt, die dem Volk angehören und eben diese Gemeinsamkeiten besäßen. Diese Gemeinsamkeiten (Sprache, Kultur, Religion, Mentalität, Sitten, Gebräuche usw.) sind immer ideologisch: Entweder sind sie Produkt der nationalstaatlichen Zusammenfassung3 oder unzutreffende Schmeicheleien über den angeblichen „Volkscharakter“. Zumeist beruhen sie auf der Ignoranz der real existierenden Vielfalt und Gegensätze in einer Gesellschaft. Wesenseigenschaften aller Volksangehörigen sind sie mitnichten.

  2. Gibt es nun in einer Gesellschaft massenhaft Leute, die diesem Ideal nicht entsprechen, weil sie die entsprechenden behaupteten Gemeinsamkeiten – angeblich oder wirklich – nicht haben, reagieren Nationalist*innen darauf durchaus verschieden: Manches wird als liebenswerte regionale oder konfessionelle Besonderheit verbucht, und trägt zum Reichtum und zur Vielfalt von Volk und Vaterland bei. Anderes wird als Abweichung, die sich nicht gehört, bekämpft und versucht, den Leuten die Gemeinsamkeit gewaltsam einzutrichtern. Oder aber die Leute, die da wirklich oder auch nur in der Vorstellungswelt des Nationalismus, vom eigentlichen Volk abweichen, werden als nicht dazu gehörig betrachtet und aussortiert.

  3. Jüd*innen wurden und werden oft in diese dritte Kategorie gerechnet. Ihnen wird unterstellt, eben nicht nur eine andere Religion zu haben und darum mit ihren Glaubensgeschwistern in anderen Ländern in engerer Verbindung zu sein, als mit dem andersgläubigen Rest der Gesellschaft (das ließe sich auch über Reformierte sagen). Jüd*innen seien in Wirklichkeit ein als Religion getarntes Volk4, das inmitten anderer Völker lebe, diese ausnutzte und ihnen schade und letztlich für alles Schlechte in der Welt verantwortlich sei. Wie kommen Sie darauf?

  4. Nationalist*innen haben an ihr Volk noch höhere Ansprüche, als bloß ein paar Gemeinsamkeiten zu haben. Sie wollen eine Gemeinschaft, d.h. ihr Ideal ist das harmonische Zusammenwirken aller Teile der Gesellschaft zum Wohle eben dieser Gesellschaft, beschützt und gefördert von einer Herrschaft, die sich genau dieser Gemeinschaft verpflichtet fühlt. Viele Nationalist*innen meinen, dass sich der Staat nur dieser Gemeinschaft verpflichtet fühlen solle – und sonst gar nichts auf der Welt. Und dass alle Leute, die dieser Gemeinschaft nicht angehören, eigentlich im Land nichts zu suchen haben.

  5. Mit diesem Ideal einer harmonischen nationalen Gemeinschaft ist die Unzufriedenheit mit der Realität kapitalistischer Nationalstaaten vorprogrammiert. Wer sich das tagtägliche Gegeneinander in ein Für- und Miteinander umlügt, wird sich dauernd über Vermieter*innen wundern, die nicht möglichst gute und billige Wohnungen anbieten. Ebenso über Kapitalist*innen ärgern, deren Hauptanliegen es nicht ist, angenehme und gut bezahlte Arbeitsplätze anzubieten. Und über Arbeiter*innen aufregen, denen es nicht reicht „arm aber ehrlich“ ihren Dienst für Vaterland und Arbeitgeber*in zu verrichten, sondern sich ein gutes Leben anders vorstellen. Wer vom Staat verlangt, rücksichtslos das Interesse an der nationalen Gemeinschaft durchzusetzen, wird dauernd enttäuscht werden: von den Güterabwägung des Staates, von den Wirtschaftskrisen, von den Rücksichten, die der Staat auf andere Staaten nehmen muss usw. Die Enttäuschung führt nicht dazu, dass sie ihr Ideal in Frage stellen. Sondern sie werden unzufrieden und machen sich auf die Suche nach Schuldigen.

  6. Das ist nichts Ungewöhnliches. Wer an Lohnarbeit, Privateigentum, Konkurrenz und „geschäftlichen Erfolg“ eigentlich nichts Schlechtes finden kann, kommt schnell auf die Idee, dass alle unangenehmen Wirkungen dieser gesellschaftlichen Sachverhalte auf mangelnde Moral zurückzuführen sind. Also darauf, dass die Leute nur an sich denken, anstatt beim Konkurrieren um Arbeitsplätze und Unternehmensgewinne immer auch das Wohl der nationalen Gemeinschaft im Auge zu haben. Das ist ein ziemlich durchgesetzter Standpunkt. Radikale Nationalist*innen denken da weiter.

  7. Als gute Nationalist*innen sind sie mehr oder weniger von der moralischen Güte der eigenen Volksgenoss*innen überzeugt. Darum kann für sie eine moralisch schlechte, für Volk und Vaterland schädliche Einstellung nur aus dem Ausland kommen. Wird also etwas moralisch Verwerfliches von einer Inländer*in veranstaltet, z.B. eine Massenentlassung, kann da für sie eben nur ein ausländischer Wille am Werk gewesen sein. Denn die haben ja ein anderes Vaterland, und sind darum Mitmenschen mit zweifelhafter Loyalität. Antisemit*innen schließen genau daran an: Weil sie Jüd*innen nicht als Inländer*innen, sondern als inländische Ausländer*innen betrachten, denken sie sich: Die hätten keine nationale Verpflichtung gegenüber dem Vaterland, darum seien sie weder fähig noch willig ans Allgemeinwohl zu denken.

  8. Dabei können die modernen AntisemitInnen auf eine ganze Reihe von Zuschreibungen zugreifen, die schon der mittelalterliche und frühkapitalistische Judenhass etabliert hat. Die Jüd*innen hatten schon vor der Durchsetzung des kapitalistischen Nationalstaats die zweifelhafte Ehre insgesamt als angebliche geheime weltweite Macht für alles mögliche Unheil verantwortlich gemacht zu werden, das durch Armut und kapitalistischen Reichtum hervorgebracht wurde. Ihnen wurde unterstellt: nur ans Geld zu denken, nicht wirklich arbeiten zu wollen, andere auszubeuten, billige und schlechte Waren zu verkaufen, die althergebrachten Traditionen und Bräuche zu verachten, ihre Umwelt insgeheim zu hassen und überhaupt ziemlich unmoralische und unangenehme Menschen zu sein – um nur den allerwichtigsten Gedankenschrott zu erwähnen. Deswegen ist die Benennung von Jüd*innen als Schuldige zwar nicht unausweichlich, aber für jemanden, der echte oder eingebildete nationale Probleme nur durch moralische Schlechtigkeit der Akteure erklären will, naheliegend.

  9. Für den modernen Nationalismus gewinnt dieser Untugendenkatalog eine neue Bedeutung. Frühere Varianten der Judenfeindschaft (v)erklärten Bäuer*innen und Handwerker*innen, warum ihre „christlichen Obrigkeiten“ so „unchristlich“ mit ihnen umgingen. Moderne antijüdische Vorstellungen sollen nunmehr plausibel machen, warum die nationale Gemeinschaft nicht klappt. Mit den Jüd*innen seien nicht nur „Gemeinschaftsfremde“ anwesend. Sie seien sogar Gemeinschaftsfeinde, die – absichtlich und mit bösem Willen, oder einfach aufgrund ihres Volkscharakters ohne es zu merken – das harmonische Zusammenleben des Volkes störten. Jüd*innen würden den Staat daran hindern seinem eigentlichen Auftrag nachzukommen. Fertig sind die modernen AntisemitInnen.

  10. Oder zumindest fast. Hinzu kommt eigentlich immer: Jüd*innen seien darüber hinaus schlau und hinterhältig. Sie verstünden es, sich im Hintergrund zu halten und gleichzeitig machtvoll die Strippen zu ziehen. Sie würden die Politiker*innen manipulieren oder bestechen und dominierten so alle Staaten, wo sie leben. Damit ist für AntisemitInnen ein absoluter gesellschaftlicher Notstand vorhanden: Ausgerechnet die Politik, die das Allgemeinwohl durchsetzen soll, sei durch die „jüdische Manipulation“ Werkzeug für das genaue Gegenteil geworden.

  11. AntisemitInnen glauben – wie die meisten Leute – daran, dass der Staat die Aufgabe habe, alle zu zwingen, sich „anständig“ zu benehmen. Würden sich dann alle anstrengen, hätten Staat und Volk auch was davon. Könne der Staat das nicht mehr durchsetzen, zerstöre der nunmehr „ungezügelte Kapitalismus“ das harmonische Zusammenleben und am Ende die nationale Gemeinschaft sogar insgesamt. Dagegen wollen sich AntisemitInnen „wehren“ – und sehen sich schon darum zu allerhand Brutalitäten prinzipiell berechtigt.

Dieser Text ist der zwölfte in der Reihe 50 Fragen 50 Antworten - Über den Rechtsruck – und wie man ihn besser nicht kritisiert. Die Reihe findet damit zunächst ihr nicht ganz mathematisch korrektes Ende.

1 Wie verbreitet ist Antisemitismus in der Gesellschaft?“ https://mediendienst-integration.de/desintegration/antisemitismus.html

2 Die Erklärungen, warum die Leute aus diesen Problemen den Schluss ziehen, ausgerechnet die Jüd*innen zu hassen, sind nicht sonderlich überzeugend.

3 Besonders schön lässt sich das bei der Durchsetzung der „Hochsprachen“ gegen die Dialekte durch die Einführung eines einheitlichen Schulsystems zeigen.

4 Dass die heiligen Texte der jüdischen Religion häufig vom „Volk Israel“ sprechen und die jüdische Religion keine Missionierung betreibt und es Konvertiten auch nicht übermäßig leicht macht, sind für AntisemitInnen da klare Indizien. Für die meisten Jüd*innen außerhalb Israels ist der Begriff „Volk“ als Metapher für „Bund“, „Gemeinschaft“ usw. zu verstehen.